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Wo ich zu Hause bin

Wo ich zu Hause bin

Titel: Wo ich zu Hause bin
Autoren: Anselm Gruen
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Heimat, die wir besingen, vorbei ist, ja dass sie vielleicht nie so war, wie sie im Lied erklingt. Aber es ertönt eine Ahnung von Heimat und Geborgenheit, von Wehmut und von Liebe, die wir in der Heimat erfahren haben.
    In der Gesangsrunde auf dem Winkelhof laden wir die Teilnehmer ein, ihre Heimatlieder zu singen. Da singt dann ein Schweizer ein typisches Schweizer Lied, ein Schwabe das Lied von der Schwäbischen Eisenbahn. Ein Franzose, ein Holländer, eine Slowenin, eine Kroatin, ein Ungar, ein Österreicher und eine Österreicherin, sie alle singen ihre Heimatlieder. Und in jedem Lied wird für uns Zuhörer etwas von der Heimat dieser Menschen erfahrbar.
    Ein Mitbruder, der mit zwölf Jahren aus Schlesien fliehen musste und seine zweijährige Nichte im Arm hielt, um sie heil in den Westen zu bringen, erzählte mir: Auf der Flucht sang abends ununterbrochen eine Frau das Lied »Kein schöner Land in dieser Zeit«. Die Frauwurde irre an diesem Lied, sodass die andern es ihr verboten. Sie spürten, dass das ständige Besingen der Heimat auch krank machen kann, vor allem, wenn es so zwanghaft geschieht. Für diesen Mitbruder war es damals nicht mehr möglich, dieses Lied in der Schule mitzusingen. Es war zu sehr belastet. Andere dagegen haben in diesem Lied ihre Heimat beschworen und die Gemeinschaft, die beim gemeinsamen Singen in der Heimat entstanden war.
    Als ich in Lettland war, erzählten mir die Leute, dass die Menschen dort gerne singen. Mitten in einem Land, das ständig unter fremder Herrschaft war – unter deutscher, polnischer und russischer – und das immer unterdrückt worden ist, singen die Menschen dort ihre Heimatlieder und erahnen etwas von ihrer eigenen Identität. Gegen die Heimatlieder waren die russischen Panzer machtlos. Die Lieder hatten eine größere Kraft als die militärische Macht der Russen.
    Meine Mutter hat jahrelang in der Frauenmesse am Dienstag die Lieder angestimmt. Da hat sie oft diejenigen ausgewählt, die sie emotional angesprochen und die sie an ihre Kindheit in der Eifel erinnert haben. Sie hatte ihre Lieblingslieder, von denen sie schwärmte. Da kam sie in Berührung mit ihrer Heimat. Da wurde nicht nur über Gott gesungen, sondern der Gott der Liebe und der Barmherzigkeit, der mütterliche und väterliche Gott wurde in diesen Liedern hörbar und spürbar. An Weihnachten haben meine Eltern mit uns Weihnachtslieder gesungen. Und da suchten sie vor allem Lieder aus, die sie von ihren Eltern und Großeltern gelernt hatten.Da war offensichtlich der Wunsch, im Singen teilzuhaben an ihrer Glaubenskraft und Lebenskraft. Und es war die Ahnung, dass sie im Singen dieser Lieder die Heimat erfahren, die sie als Kind in der Eifel erlebt hatten.
    Wenn ich zu den Vorträgen mit dem Auto fahre, höre ich oft Bachkantaten oder Mozartopern oder Schubertlieder – von Fritz Wunderlich gesungen. Manchmal muss ich eine Arie oder ein Lied nochmals hören, weil es gerade etwas Wichtiges in mir anspricht: etwa die Sopran-Arie »Gottes Engel weichen nicht«, die voller Vertrauen ist, dass wir nie allein sind, sondern auch auf den Wegen immer daheim, weil ein Engel uns begleitet. Oder ich höre die Arie der Gräfin in der Mozartoper »Die Hochzeit des Figaro«: » Dove sono i miei sentimenti? – Wo sind meine Gefühle?« In dieser Arie wird einfach die Liebe besungen als eine Macht, die unser Herz erfüllt. Das ist eine Liebe, die voller Sehnsucht ist, die aber nicht nur einen bestimmten Menschen meint, sondern die Himmel und Erde miteinander verbindet, die in mir die Sehnsucht nach Heimat weckt, nach einer Geborgenheit in einer Liebe, die alle Fasern meines Leibes und meiner Seele durchdringt.
    Man könnte die Musik als Ort, an dem wir Heimat erfahren, auch von der Philosophie der Musik her entfalten. Martin Heidegger sagt einmal: »Hören führt in die Geborgenheit.« Wenn wir Musik hören und uns von ihr einhüllen oder den ganzen Leib durchdringen lassen, dann fühlen wir uns geborgen. Die Musik ist wie ein mütterlicher Arm, in dem wir uns bergen dürfen. AnderePhilosophen sprechen davon, dass in der Musik etwas anklingt, was das Herz im Innersten berührt, was die Sehnsucht nach himmlischer Heimat mitten in diesem irdischen Leben weckt. Die Musik bringt uns mit den tiefen Emotionen unseres Herzens in Berührung, die in uns auftauchen, wenn wir an die Heimat denken. Der Philosoph Peter Sloterdijk meint, in der Musik sei immer beides: Ausfahrt und Heimkehr. Das Ohr »sehnt sich zurück in die
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