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Wo ich zu Hause bin

Wo ich zu Hause bin

Titel: Wo ich zu Hause bin
Autoren: Anselm Gruen
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Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, taucht irgendwann einmal die Frage nach ihrer inneren Heimat auf. Sie können nicht einfach so in den Tag hineinleben. Sie müssen sich bewusst machen, was ihre Identität ist und was ihnen Heimat schenkt.
    Schon in der Romantik haben gerade die Dichter die Heimat gepriesen, die aus der Heimat entweder freiwillig gegangen sind oder vertrieben wurden. Theodor Fontane schreibt: »Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.« Walter Jens sagt von all diesen romantischen Dichtern und ihren Nachfolgern im 20. Jahrhundert: »Nur die Poesie der Ausfahrer, Exilierten und Vertriebenen kann adäquat beschreiben, was Heimat ist – nicht Dichtung der Nesthocker, die ihr heimeliges Glück im Winkel besingen, Provinzialität für Bodenständigkeit halten und dabei noch glauben, die großen, ihrem Land treu gebliebenen Sänger der Heimat, von Hebel bis Fontane, für sich reklamieren zu können.« 14 Die Dichter, die in der Fremde waren, haben gelernt, ihre Heimat nicht nur anders, sondern auchrichtig zu sehen, die Maßstäbe zurechtzurücken. Sie haben die Heimat nicht verklärt, sondern die Spannung beschrieben zwischen dem Heimweh nach dem Vertrauten und dem Leiden an der Enge, der sie bewusst entflohen sind.
    Hildegard von Bingen sagt, die Kunst der Menschwerdung bestünde darin, unsere Wunden zu Perlen zu verwandeln. Das gilt auch für die Heimatlosigkeit. Die Erfahrung der Heimatlosigkeit gehört zu jedem von uns, selbst wenn wir nie aus unserer Heimat vertrieben worden sind. Aber manchmal fühlen wir uns mitten unter unseren Freunden fremd. Wir spüren, dass sie uns nicht die letzte Heimat sein können. Wenn wir uns aussöhnen mit unserer inneren Heimatlosigkeit, werden wir die Einsamkeit anderer Menschen spüren. Wir können die Wunde unserer Heimatlosigkeit in eine Perle verwandeln, indem wir heimatlos gewordenen Menschen ein Stück Heimat gewähren. Wer sein Herz für den Einsamen öffnet, schafft um sich herum einen Raum, in dem sich der Einsame zu Hause fühlen kann.
     
    Der Mensch ist von seinem Wesen her beides: auf Heimat angewiesen und zugleich heimatlos. Die Bibel hat das in der Erzählung vom Paradies ausgedrückt. Der Mensch spricht oft von seiner Heimat als von einem Paradies. Dort war er geborgen. Dort war die Welt noch in Ordnung. Doch schon die Bibel weiß, dass der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde. Als dem Menschen die Augen aufgingen, als er die Ordnung des Paradieses missachtet hat, da verlor dieser Ort für ihn die Atmosphärevon Heimat. Da wurde ihm alles fremd. Die Erde war nicht mehr Heimat. Er musste unter Mühsal den Ackerboden bearbeiten. Wir finden uns in der Rolle des Adam, der die Erde nicht mehr als heimatlichen Garten erfährt, sondern als Ort voller Dornen und Disteln. Und wir sind wie Kain, der ruhelos herumwandern muss, ohne Heimat zu finden. Kain sagt zu Gott: »Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein« (Genesis 4,14). Das ist die Situation, in der wir uns heute befinden: vertrieben aus dem Paradies unserer Heimat, vertrieben von der Ackerscholle, die uns genährt hat, und zugleich auf der Suche nach der verlorenen Heimat. Friedrich Nietzsche hat das eindrucksvoll in seinem Gedicht »Vereinsamt« beschrieben.
    Die Krähen schrein
    Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
    Bald wird es schnein, –
    Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!
     
    Nun stehst du starr,
    Schaust rückwärts, ach! Wie lange schon!
    Was bist du Narr
    Vor Winters in die Welt entflohn?
     
    Die Welt – ein Tor
    Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
    Wer das verlor,
    Was du verlorst, macht nirgends halt.
     
    Nun stehst du bleich,
    Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
    Dem Rauche gleich,
    Der stets nach kältern Himmeln sucht.
     
    Flieg, Vogel, schnarr
    Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! –
    Versteck, du Narr,
    Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
     
    Die Krähen schrein
    Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
    Bald wird es schnein, –
    Weh dem, der keine Heimat hat.
     
    Friedrich Nietzsche
    Nietzsche beschreibt unsere Situation. Es ist Winterlandschaft. Wir sind Toren, dass wir in diese Welt gerade vor dem Winter hinausgezogen sind. Jetzt kommt uns alle Welt wie eine kalte und herbe Winterlandschaft vor, die unsere Herzen erstarren lässt. In der Winterlandschaft können wir nicht daheim sein. Da spüren wir, dass wir die Heimat verloren haben. So schauen wir
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