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Wir Tiere: Roman (German Edition)

Wir Tiere: Roman (German Edition)

Titel: Wir Tiere: Roman (German Edition)
Autoren: Justin Torres
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mir niemand zu erklären; ich kam ganz allein darauf, in kleinen, verängstigten Schritten. Wochenlang hatte ich mich zu diesem Busbahnhof geschlichen, lauerte, war unentschlossen. Ich versteckte mich in den Kabinen, linste durch die Spalte. Ich wusch mir unentwegt die Hände, konnte die direkten Blicke im Spiegel nicht erwidern. Ich wusste nicht, wie ich diesen Männern zeigen sollte, dass ich bereit war. Was dem am nächsten kam, war der Moment mit einem Mann, der mich am Kinn packte, mein Gesicht zu seinem hochkippte und mir sagte, ich sei ein hübsches Kerlchen.
    »Du bist ein hübsches Kerlchen«, hatte er wiederholt, »und jetzt hau ab hier.«
    In dieser Nacht stand nur ein Bus auf dem Parkplatz. Der Fahrer entdeckte mich, drückte auf den Knopf, und die Tür gab einen lauten, schnellen Furz Druckluft von sich.
    »New York?«
    Ich wies auf den Busbahnhof. »Ich muss nur mal.«
    »Da drin nicht. Nicht um diese Uhrzeit.«
    »Warum nicht?«
    Der Fahrer überhörte das und sah weiter in die fallenden Flocken hinaus. Er trug seine Uniform, blaue Polyesterhose, eine blaue Strickjacke mit dem Buslogo auf der Tasche. Ein Mann mittleren Alters, überall dick, bis hin zu den Fingern, von denen er einen auf die Windschutzscheibe richtete. »Hätte schon vor einer Stunde abfahren müssen, aber das hat der Schnee verhindert. Und was für ein Schnee, wunderschön.«
    Ein Schneesturm. Die Luft war warm. Die Flocken waren nass und bauschig und klebrig, sie schnitten in glatten, gnadenlosen, sanften Diagonalen zu Boden. Meine Brüder werden sich heute Nacht verlaufen; sie werden in all dem Weiß nach mir suchen; sie werden ertrinken.
    »Ist das Gebäude zu?«
    »Hab alle, die nach New York wollten, nach Hause geschickt. Wenn du nach New York willst, komm morgen früh wieder. Ich bring dich persönlich hin.«
    »Nein, Sir.«
    »Wenn du unbedingt pinkeln musst, dann komm rein.«
    Die Tür schloss sich hinter mir, ich blieb auf der obersten Stufe stehen und wagte einen Blick in die Augen des Fahrers. Er hatte genug vom Versteckspielen. Mein Herz raste; ich sah mich nach dem Türöffner um, fand aber keinen.
    »Das Klo ist da hinten?«
    Der Fahrer stand auf. Ich hielt für ihn still. Ich wollte es.
    Kalte, dicke Finger schlängelten sich hinter den Hosenbund; ich hielt still. »Du willst, dass ich es dir mache«, sagte der Fahrer. »Ich mach’s dir. Ich mach’s dir.«
    Und so wurde ich gemacht.
    Ich stapfte in den kommenden Morgen hinaus. Der Winterhimmel war wolkenverhangen. Alles war pinkfarbener Dämmer. Ich wollte mich so ansehen, wie er es getan hatte; ich wollte meine schwarzen Locken unter meiner Skimütze hervorlugen sehen. Was hatte er von meiner schmalen Brust gehalten? Was von meinem zu breiten Grinsen? Er hatte die Heizung auf höchster Stufe laufen lassen, aber hinten im Bus hielt sich die Kälte. Die Kälte sammelte sich in diesen Fingerspitzen, und überall, wo er mich berührte, gab es einen überraschenden stumpfen Stich. Ich wollte vor einem Spiegel stehen und mich immerzu betrachten. Ich öffnete den Mund und rief über das Brummen der vorbeihuschenden Wagen hinweg.
    »Er hat’s mir gemacht!«, schrie ich. »Ich bin gemacht worden.«

Tiefe Nacht
    S ie hatten sich im Vorderzimmer versammelt, und die Luft roch nach Kummer. Die Wucht ihrer acht Augen drückte mich zur Tür zurück; noch nie war ich mit solchem Ungestüm angestarrt worden. Alles Leichte zwischen mir, meinen Brüdern, meiner Mutter und meinem Vater war verloren.
    Meine Brüder trugen noch ihre Jacken, ihre Haare waren nass, Paps war angezogen und frisch rasiert, und Ma sah mich an, ihr Mascara war verlaufen, Tigerstreifen im Gesicht, die Augen waren rot, die Hände hatte sie in den Haaren – wie oft hatte ich sie so gesehen? Sie sprach, aber ich verstand nicht, was sie sagte, denn auf ihrem Schoß lag, unmöglich, mein Tagebuch.
    Mit kräftigen, offenen Worten hatte ich meine Fantasien niedergeschrieben über die Männer, die ich am Busbahnhof getroffen hatte, und über das, was ich von ihnen wollte. Ich hatte einen ganzen Katalog eingebildeter Perversionen verfasst, wüste Pornografie mit mir selbst im Mittelpunkt, mit meinem Selbst ausgelöscht. Und nun lag es da auf Mas Schoß.
    Einen Augenblick lang verliefen meine Gedanken und Ängste zu einem Schwarz, alles wurde unscharf – ein Erdrutsch setzte ein, mir sackte der Magen nach unten, mein Geschlecht, meine Knie wurden weich, und ich knallte hart zu Boden.
    Ich kniete in der Tür, und als
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