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Maigret bei den Flamen

Maigret bei den Flamen

Titel: Maigret bei den Flamen
Autoren: Georges Simenon
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Inhalt
    1 Anna Peeters
    2 Die »Etoile Polaire«
    3 Die Hebamme
    4 Das Porträt
    5 Maigrets Abend
    6 Der Hammer
    7 Ein Loch von drei Stunden
    8 Der Besuch bei den Ursulinerinnen
    9 Rund um einen Korbsessel
    10 Solveigs Lied
    11 Annas Schicksal
    1
    Anna Peeters
    A
    ls Maigret in Givet aus dem Zug stieg, war Anna Peeters der erste Mensch, den er auf dem Bahnsteig erblickte – sie stand genau in Höhe seiner Abtei l tür.
    Als ob sie exakt vorausgesehen hätte, an welcher Stelle des Bahnsteiges er den Zug verlassen würde! Sie selbst schien weder überrascht noch stolz darauf zu sein. Sie sah so aus, wie er sie bereits in Paris gesehen hatte und wie sie wohl alle Tage aussah: Sie trug ein eisengraues Jacke n kleid, schwarze Schuhe und einen jener u n scheinbaren Hüte, an deren Form oder gar Farbe man sich später nicht mehr erinnern kann.
    Hier auf dem Bahnsteig, über den der Wind hinwegfegte und auf dem nur noch einige Reisende umherir r ten, erschien sie jedoch größer und ein wenig kräftiger. Ihre Nase war gerötet, und in der Hand hielt sie ein z u sammengeknülltes Taschentuch.
    »Ich war sicher, daß Sie kommen würden, Herr Kommissar …«
    War sie sich nun seiner oder ihrer selbst so sicher? Sie hatte ihn ohne ein Lächeln begrüßt und fragte gleich:
    »Haben Sie noch mehr Gepäck mit?«
    Nein! Maigret hatte nur seine ausgebeulte Reisetasche aus grobem Leder mitgenommen, die er trotz ihres G e wichts selbst trug.
    Außer ihm waren nur einige Reisende aus der dritten Klasse ausgestiegen, die den Bahnsteig aber schon verlassen hatten. Anna Peeters hielt dem Beamten an der Sperre ihre Bahnsteigkarte hin, und dieser musterte die junge Frau eindringlich.
    Draußen fuhr sie unbekümmert fort:
    »Eigentlich wollte ich Ihnen ein Zimmer bei uns im Haus richten, aber dann habe ich es mir doch anders übe r legt. Ich glaube, es ist besser, wenn Sie im Hotel wohnen. Ich habe das beste Zimmer im Hôtel de la Me u se für Sie reservieren lassen.«
    Sie waren kaum hundert Meter durch die engen Gassen von Givet gegangen, als sich bereits alle Leute nach ihnen umsahen. Maigret schleppte schwer an seiner Reisetasche. Er versuchte, sich alles einzuprägen: die Menschen, die Häuser und insbesondere seine Begleiterin.
    »Was ist das für ein Geräusch?« fragte er, als er ein Rauschen hörte, das er nicht identifizieren konnte.
    »Die Maas führt Hochwasser und brandet gegen die Brückenpfeiler. Die Schiffahrt ist jetzt schon seit drei Wochen eingestellt …«
    Beim Verlassen einer kleinen Straße sah man plötzlich den Fluß vor sich. Er war breit angeschwollen, und die Uferlinie war nicht genau auszumachen. Hier und dort hatte der braune Strom die Wiesen überschwemmt, und an einer anderen Stelle ragte ein Schuppen aus dem Wasser.
    Mindestens hundert Kähne, Schlepper und Schwimmbagger lagen dort dicht aneinandergedrängt und bildeten einen riesigen Block.
    »Hier ist Ihr Hotel. Besonders komfortabel ist es nicht … Möchten Sie erst einmal hinauf gehen und ein Bad nehmen?«
    Es war unglaublich! Maigret wußte nicht, was er von dieser Frau halten sollte, die wie keine andere zuvor se i ne Neugier weckte, die nicht aus der Ruhe zu bringen war, weder lächelte noch sich bemühte, hübsch auszus e hen, und die gelegentlich ihre Nase mit dem Tasche n tuch abtupfte.
    Sie mußte zwischen fünfundzwanzig und dreißig sein. Sie war auffallend hochgewachsen, aber ihre kräftige St a tur und der schwere Knochenbau nahmen ihrer E r scheinung jede Anmut.
    Ihre Kleidung war kleinbürgerlich und extrem unauffällig. Ihr Auftreten wirkte ruhig, beinahe vornehm.
    Sie behandelte ihn wie ihren Gast. Sie war hier zu Hause, und sie kümmerte sich um alles.
    »Ich wüßte nicht, warum ich jetzt ein Bad nehmen sollte!«
    »Wenn Sie dann bitte gleich zu uns nach Hause kommen wollten? Geben Sie Ihr Gepäck dem Hoteldiener … Garçon! Bringen Sie diese Tasche auf Zimmer 3 ! Monsieur kommt später nach.«
    Maigret beobachtete sie schräg von der Seite und dachte:
    »Sie behandelt mich wie einen Idioten!«
    Dabei machte er ganz und gar nicht den Eindruck eines unbeholfenen kleinen Jungen. Wenn sie schon nicht schmächtig war, so war er doch doppelt so kräftig g e baut, und in seinem weiten Mantel sah er aus wie ein aus Stein gehauenes Standbild.
    »Sind Sie nicht zu müde?«
    »Ich bin überhaupt nicht müde!«
    »Dann kann ich Ihnen ja schon auf dem Weg die ersten Angaben machen …«
    Die ersten Angaben hatte sie ihm schon in Paris gemacht!
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