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Wir Tiere: Roman (German Edition)

Wir Tiere: Roman (German Edition)

Titel: Wir Tiere: Roman (German Edition)
Autoren: Justin Torres
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der Augenbrauen markierten ihre Ähnlichkeit. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre Lippen bedeckten kaum noch Zähne und Zahnfleisch, so als wollten Kiefer und Schädel aus der Haut.
    Sie gingen gebeugt und schlichen umher. Sie zitterten. Sie kratzten sich.
    Draußen auf der Laderampe, im Lampenschein, beobachteten sie die Nacht. Sie schauten zu, wie der Atem vor ihnen gefror und in die kalte Dunkelheit hinauswehte. Sie standen ohne Kapuze im Schnee, knipsten die Filter von ihren Zigaretten. Sie redeten von Einbrüchen. Gern sagten sie, etwas sei heiß – ihre Nacht, ihre Drogen. Später wird einer von ihnen wegen eines Mädchens sein Gesicht in den Spiegel der Umkleide rammen, der andere wird sich die Arme aufschlitzen. Sie werden durchfallen. Sie werden einen Wagen nach dem anderen in den Graben setzen. Später werden sie alle mögliche Pornografie verhökern. Schon bald werden sie aussteigen. Bei der Arbeit treiben sie sich mit all den anderen Jungs herum, die genauso sind wie sie, Jungs mit ausgeschlagenen Zähnen, schlechtem Atem, schnellem Zwinkern. Sie werden in Kellerwohnungen mit erwachsenen Männern herumlungern, die sich Schlangen in Terrarien halten. Noch später wird ihnen aufgehen, dass diese Jungs überhaupt nicht so sind wie sie. Wer kennt schon dieses Leben einer Promenadenmischung? Wer kennt schon Paps? All die anderen Jungs, der weiße Abschaum hier, haben ein Vermächtnis zu hüten, Jahrzehnte an Armut und Gewalt und Blutslinien, die sie wie eine Narbe verfolgen können; und das hier sind ihre Schluchten, ihre Berge, ihre Tugend. Ihre Großväter haben den Zement dieser Laderampe gegossen. Und unten in Brooklyn haben die Puerto Ricaner eine Sprache, sie haben eine Stimme .
    Später werden sie erkennen, dass keiner der anderen Jungs so gnadenlos, so neu, so verwaist ist.
    Doch da draußen auf der Laderampe blickten sie in die Zukunft und sahen etwas anderes.
    Sie waren stolz darauf, die Art von Jungs zu sein – Jungs, die in aller Öffentlichkeit spuckten, Jungs, die den Blick zu Boden oder auf einen Punkt über den Köpfen richteten, Jungs, die einem nur in die Augen schauten, um zu taxieren oder einzuschüchtern. Wenn sie sich die trockene Haut von der Unterlippe bissen, wenn sie an der Haut zwischen Daumen und Zeigefinger kauten, wenn sie sich mit dem Hausschlüssel im Ohr kratzten, sahen sie Erinnerungen, stolze Erinnerungen, Blutserinnerungen, oder aber sie träumten von der wilden Zukunft. Draußen auf der Laderampe skandierten sie: » Nee, Mann, hör bloß auf mit dem Scheiß – Scheiß drauf – Ich sag dir, wie das gelaufen ist – Ich sag dir, wie das laufen wird.«
    Sie hatten keine Angst, waren nicht vertrieben, nicht zerbrechlich. Sie waren einfach da. Schon bald würden sie über all die Gräben hinwegfliegen. Bald würden sie mit der Kohle nur so rumschmeißen. Sie würden entscheiden. Sie würden sich entsprechend umformen. Sie würden von den Mischlingen singen.
    Und ich. Schaut mich an. Seht mich dort bei ihnen, im Schnee – umgeben von ihrem Verständnis und ihrem Unverständnis zugleich. Seht, wie sehr ich sie verunsichere. Sie rochen mein Anderssein – meinen scharfen, traurigen Weicheigeruch. Sie glaubten, ich könne eine Welt kennen, die größer war als die ihre. Sie hassten mich für meine guten Noten, für meine weiße Art. Sie waren angewidert, neidisch, zutiefst beschützerisch und zutiefst stolz, alles zugleich.
    Schaut uns an, unsere letzte gemeinsame Nacht, als wir noch Brüder waren.

Mitternacht
    W ir tranken den Schnaps aus, sprangen von der Rampe, und Manny schleuderte die leere Flasche einfach so zwischen die Bäume. Wir hörten sie nirgendwo aufschlagen, wir hörten kein Rascheln, keinen Aufprall – und wir ergötzten uns an der Freude dieses stummen Wunders. Manny erfand ein schwarzes Loch; Joel schlug vor, die Flasche sei einem gähnenden Waschbären genau im Maul gelandet; ich zog die beiden nur auf: »Das ist doch der blödeste Scheiß, den ich je gehört hab.« Wir traten in unsere Schatten und in das Echo unseres Gelächters, gingen nirgendwo hin. Der Alkohol wärmte uns die Bäuche, die Schneeflocken dickten die Luft vor uns an.
    Um die Ecke stand der Müllcontainer mit den vier Kammern, und im Schatten des Containers versteckte sich die streunende Katze mit den acht Zitzen. Wir wühlten in unseren Taschen nach Milchgeld; Manny hatte fünfundsiebzig Cent. Fünfzehn Minuten bis zur Tankstelle, keinem war kalt. Am Tresen schoben wir dem Verkäufer,
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