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Wir Tiere: Roman (German Edition)

Wir Tiere: Roman (German Edition)

Titel: Wir Tiere: Roman (German Edition)
Autoren: Justin Torres
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Fernseher: »Ach, das hatte nichts zu bedeuten!«
    Unser Paps hatte nichts mit Pornografie am Hut; das hatte er uns gesagt, und es war die Wahrheit. Wenn er schmutzige Bänder oder Bilder gehabt hätte, dann hätten wir sie gefunden. Bei einem Garagenflohmarkt waren wir mal auf einen Karton gestoßen, auf dem »Nur für Erwachsene« geschrieben stand. Der alte Mann hatte von seinem Gartenstuhl zu uns herübergelacht. »Na, schaut schon rein«, hatte er gesagt, »aber wenn ihr eine Lady seht, die stehen bleibt und sich meine Teller anschaut, dann geht ihr von der Schachtel weg.«
    Wir hatten Haut gesehen, Frauen, Geschlechtsteile und Stellungen, aber nur auf Fotos. Dieser Mann, dieser Teenager, sie lebten oder hatten gelebt – in diesem kahlen Zimmer, nur ein Bett, Laken, ein Buch, eine Einstellung, keine veränderten Blickwinkel, kein Schnitt, wie ein Amateurfilm.
    »Ich werde dir eine Lektion erteilen, junger Mann.«
    »Meine Güte«, hatte die Mutter in der Umkleide gesagt, so als ob ihre Güte eine besondere Leckerei wäre, die ihr ein frecher Vogel aus der Hand stibitzt hatte.
    »Zieh die Unterhose runter.«
    Ich hatte Mütter gesehen, die ihren Kindern die Ohren zuhielten, wenn jemand fluchte oder wenn die Mütter selber fluchten. Und ich hatte eine Frau einem Kind die Ohren zuhalten sehen, als jemand anderer Gott lästerte.
    »Beug dich über meinen Schoß.«
    Und keiner hat es verhindert. Meine Brüder. Keiner.
    »Daddy, bitte.«
    Wir hatten Haut gesehen, aber nur Fotos, Frauen. Und wir hatten unsere Körper gesehen – wir alle, Manny und Joel und ich, Ma und Paps –, wir hatten uns schon durchgeprügelt gesehen, ein vor Schmerz blökendes Tier, hysterisch, und nun unter Drogen, betrunken, glasiger Blick, nackt, und dann freudvoll, hatten lautes Gelächter gehört, Schreie und Tränen, und wir hatten einander stolz gesehen, leer stolz, trotzig stolz, und auch am Boden, verachtet. Wir Jungs, wir hatten von alldem schon so viel gesehen, ohne einen Penny oder mit Geld in den Taschen, voller Liebe zu uns oder ohne, bemüht, bemüht; wir hatten sie scheitern sehen, aber ohne Verständnis dafür, wir hatten das Scheitern mit aufgerissenen Augen wahrgenommen, schamlos, ohne jedes Schamgefühl.
    »Das ist für –«
    Nichts davon war so wie das hier.
    »Und das für –«
    Das waren nicht wir. Hatte nichts mit uns zu tun.
    »Ja, das gefällt dir, oder nicht?«
    Warum schaut ihr mich nicht an, meine Brüder, warum nehmt ihr meinen Blick nicht auf?

Niagara
    M anny und Joel standen kurz davor, aus der Schule geschmissen zu werden, und als ein Mann meinem Vater Geld dafür bot, ein Paket zu den Niagara-Fällen zu fahren, nahm Paps mich zwei Tage aus der Schule; ich durfte ihm Gesellschaft leisten. Wir fuhren vier Stunden lang, Paps sagte nicht viel, nur, dass wir ostwärts fuhren, um den Ontario-See, immer nah am Ufer. Wir übernachteten in einem staubigen Motelzimmer, und am Morgen ging Paps mit mir zu den Wasserfällen, und dort, am rauschenden, lärmenden Rand, hob er mich in die Luft und hielt mich so über die Brüstung, dass mein Oberkörper über den dicken, reißenden Schnüren Wasser hing, und als ich nicht wild trampelte oder schrie, drückte er mich noch weiter hinaus, legte seinen Mund an mein Ohr und fragte: »Weißt du, was passiert, wenn ich dich loslasse?«
    »Was denn?«
    »Dann stirbst du.«
    Das Wasser stolperte spritzend und hypnotisierend über sich selbst, und ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, und jede Welle war ein Leben, das weit weg aus einer Bergquelle kam, meilenweit gereist war, sich vorwärtsgedrängt hatte, bis es hier vor meinen Augen ankam, und nun stürzte sich das Wasserleben, ohne zu zögern, über die Klippe. Ich wollte meinen Körper in all der Schnelligkeit spüren; ich wollte das Schieben und Zerren der Strömung spüren, wollte hinunterstürzen und auf den Felsen dort unten aufschlagen, und ich wollte, dass Paps mich losließ, mich sterben ließ.
    Später hielt Paps vor einem kleinen Kuriositätenkabinett, gab mir fünf Dollar und sagte, er würde in einer Stunde kommen und mich holen.
    »Und was ist, wenn du stirbst?«, fragte ich.
    »Nichts ist«, antwortete er, »nichts ist für immer.«
    In dem Kabinett gab es Wachskopien von freakigen Köpfen – Menschen mit zwei Pupillen in jedem Auge oder mit gespaltener Zunge – und alte Sepia-Fotos von siamesischen Zwillingen und Babys mit Schwänzen. Es gab einen kleinen Raum mit niedriger Decke und einer Bank, in dem
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