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Wir Tiere: Roman (German Edition)

Wir Tiere: Roman (German Edition)

Titel: Wir Tiere: Roman (German Edition)
Autoren: Justin Torres
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ich zu Ma sprach, war meine Stimme ruhig und bestimmt.
    »Ich bring dich um«, sagte ich.
    Paps sprang vor, und meine Brüder hielten ihn zum allerersten Mal im Leben zurück. Doch dieses Halten ging vor meinen Augen in eine Umarmung über; in demselben Augenblick, in dem sie ihn zurückzogen, stützten sie ihn irgendwie, brachten ihn davon ab, selbst zu Boden zu sinken, und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass nicht nur Ma, sondern jeder Einzelne von ihnen die Fantasien und Wahnvorstellungen gelesen hatte, die Wahrheit, die ich in mein kleines privates Buch geschrieben hatte.
    Zwei Stunden später sitze ich im Wagen und werde zur psychiatrischen Abteilung des Allgemeinkrankenhauses gefahren, wo man mich in die Obhut des Staats gibt und mich einsperren lässt. Noch später werden mir Zweifel kommen, ob ich wirklich jemals geglaubt habe, ein solches Buch würde niemand finden – vielleicht waren meine Worte für sie alle, damit sie sich selbst entdecken und mich auch.
    Doch davor, bevor ich auf eine Trage geschnallt werde, betäubt werde, vor der geschlechtsneutralen Feindseligkeit der Krankenschwestern und Ärzte, schaut doch mal, wie ich da auf dem Wohnzimmerboden knie: meine weichen lockigen, schwarzen Haare, seit Tagen ungewaschen; meine Haut voller Akne, aber noch immer jugendlich frisch; meine zu beiden Seiten ausgestreckten Arme, die Handflächen nach oben; meine schlanken Finger, »Pianistenfinger«, sagte Ma immer zu ihnen; mein gerecktes Kinn, den Blick auf die Familie gerichtet, die vor mir erstarrt ist wie eine Bronzeskulptur des Kummers. Paps hatte seine Arme um die Schultern meiner Brüder gelegt; er lehnte sich an sie, und sie stützten jeweils eine Hand auf seine breite Brust; sie waren so groß wie er; ihre Körper waren abgemagerte Versionen von seinem, unser gemeinsames Gesicht. Ma war aufgestanden, auch sie war hinübergegangen, um Paps zu beruhigen, ihm eine Hand auf die Brust zu legen, ihm Stütze zu sein. Jeder von ihnen strahlte, war wunderschön. Wie sie für mich posierten. Dies war das letzte Mal, dass wir fünf in einem Raum waren. Ich hätte aufstehen können, ich glaube, sie hätten mich in die Arme genommen.
    Stattdessen benahm ich mich wie ein Tier.
    Ich versuchte, ihnen die Haut von den Gesichtern zu reißen, und als das nicht ging, versuchte ich, mir selbst die Haut vom Gesicht zu reißen.
    Sie drückten mich zu Boden; ich bockte und spuckte und schrie mir die Kehle wund. Ich verfluchte sie; wir alle waren Hurensöhne, Promenadenmischungen, unsere Mutter vögelte ein Ungeheuer. Sie hielten mich fest. Erst verteidigten sie sich, verfluchten mich, schlugen mir ins Gesicht, doch je wilder ich wurde, umso mehr zogen sie sich in die Liebe zu mir zurück. Jeder Einzelne von ihnen. Ich trieb sie in diese Liebe, forderte sie heraus – ihr Idioten, ihr kranken Wichser, ich wette, das hat euch gefallen, ich wette, das hat euch heiß gemacht. Ich ließ die Spucke fliegen, blähte die Nüstern – mein Körper krampfte unter ihrem Griff. Meine Stimme schraubte sich in hustende Hysterie hinein.
    Ich sagte und tat tierische, unverzeihliche Dinge.
    Was blieb ihnen da anderes übrig, als mich in den Zoo zu stecken?

Dämmerung
    S chaut, ein Vater legt vorsichtig seinen vollständig bekleideten Sohn in eine Badewanne voller Wasser. Das Badezimmer ist klein, kein Außenfenster, abgestandene Luft. Eine Mutter steht in der Tür wie eine Stummfilmakteurin – sie hat acht Finger im Mund und zittert am ganzen Körper. Der Vater dreht sich zu ihr um, legt seine Hände auf ihre Handgelenke und ihre Arme an ihre Körperseiten, während er ihr die ganze Zeit ins Ohr flüstert. Die Mutter holt tief Luft und nickt, nickt.
    Dann schiebt der Vater sie langsam auf den Flur hinaus und schließt die Tür. Er leckt sich zwei Finger nass, streckt die Hand aus und schraubt eine der beiden Birnen in der Lampe über dem Spiegel aus.
    »Ich fand es hier im Bad schon immer viel zu hell.«
    Das Kinn des Jungen fängt an zu zittern.
    » Mijo «, sagt er. »Mein Sohn. Du brauchst ein Bad.«
    Schaut, wie der Vater in dem Schrank unter dem kleinen Blechwaschbecken nach einem Waschlappen sucht. Er lässt Wasser ins Becken laufen, bis es dampft. Er pfeift. Seife, Lappen, Dampf, Schaum. Er pfeift.
    Schaut, der Sohn, ganz schläfrig von den Tönen des Vaters, von dem Ritual: Pfeifen, Wasser, Schaum und Plätschern. Jetzt seift der Vater die Kleidung ein. Jetzt kann der Sohn nur noch warten.
    »Wann hast du das letzte Mal
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