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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Autoren: Ken Follett
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einzige andere Bild im Zimmer hing an der Wand. Es zeigte Mutter mit Friedrich Ebert, dem Helden der Sozialdemokratie und ersten Präsidenten der deutschen Republik. Das Bild war vor zehn Jahren aufgenommen worden. Carla lächelte beim Anblick von Mutters formlosem Kleid und dem jungenhaft kurzen Haar, wie es damals in Mode gewesen war.
    Auf dem Regal fanden sich Adressbücher, Telefonbücher und Wörterbücher für verschiedene Sprachen sowie Atlanten, aber nichts, was man hätte lesen können. In der Schreibtischschublade lagen Bleistifte und ein neues Paar eleganter Handschuhe, noch in Papier eingewickelt, sowie ein Paket Kosmetiktücher und ein Notizbuch voller Namen und Telefonnummern.
    Carla stellte den Tischkalender auf das heutige Datum ein: Montag, 27. Februar 1933. Dann spannte sie ein Blatt Papier in die Schreibmaschine und tippte ihren vollen Namen: Heike Carla von Ulrich. Im Alter von fünf Jahren hatte sie verkündet, ihr gefiele der Name Heike nicht; in Zukunft wolle sie bei ihrem zweitenNamen gerufen werden. Seltsamerweise hatte die Familie sich daran gehalten.
    Jeder Tastendruck auf der Schreibmaschine ließ einen Metallhebel nach oben schnellen, der durch ein mit Tinte getränktes Band auf das Papier schlug, wobei ein Buchstabe gedruckt wurde. Als Carla aus Versehen zwei Tasten drückte, verklemmten sich die Hebel. Sie versuchte, sie auseinanderzubekommen, schaffte es aber nicht. Ein weiterer Anschlag führte nur dazu, dass jetzt drei Hebel ineinander verkeilt waren. Carla stöhnte. Kaum war sie hier, steckte sie in Schwierigkeiten.
    Lärm, der von draußen hereindrang, lenkte sie ab. Sie trat ans Fenster. Ein Dutzend Braunhemden marschierten mitten über die Straße und grölten ihre Parolen: »Tod den Juden! Juda verrecke!« Carla verstand nicht, warum diese Leute so wütend auf die Juden waren. Schließlich unterschieden sich die Juden nur in ihrer Religion von den anderen. Erstaunt sah sie Feldwebel Schwab an der Spitze des Trupps marschieren. Er hatte Carla leidgetan, als Vater ihn gefeuert hatte; sie hatte gewusst, dass es für Schwab schwer sein würde, eine neue Arbeit zu bekommen. In Deutschland gab es Millionen Arbeitslose. Doch Mutter hatte gesagt: »Ein Dieb hat in unserem Haus nichts zu suchen.«
    Unten riefen die Männer im Chor: »Zerschlagt die Judenpresse!« Einer von ihnen warf ein fauliges Stück Gemüse, das an der Tür einer Zeitungsredaktion zerplatzte. Dann wandten sich die Braunhemden zu Carlas Entsetzen dem Gebäude des Demokrat zu.
    Hastig zog sie sich zurück und spähte vorsichtig um den Fensterrahmen herum in der Hoffnung, die Männer würden sie nicht sehen. Noch immer grölend blieb die Meute draußen stehen. Einer warf einen Stein und traf das Fenster von Mauds Büro, ohne es zu zerbrechen; dennoch stieß Carla einen Angstschrei aus. Sofort kam eine der Sekretärinnen zu ihr herein, eine junge Frau mit rotem Barett. »Was ist?«, fragte sie; dann schaute sie hinaus. »Oh, Mist!«
    Die Braunhemden kamen ins Gebäude. Carla hörte Stiefelgepolter auf der Treppe. Angst überfiel sie. Was würden diese Männer tun?
    Lärmend kam Feldwebel Schwab in Mauds Büro. Als er dieFrau und das Mädchen sah, zögerte er kurz, schnappte sich dann aber die Schreibmaschine und schleuderte sie durchs Fenster. Das Glas zerbarst. Carla und die Sekretärin kreischten.
    Weitere Braunhemden stapften an der Tür vorbei und brüllten ihre Parolen.
    Schwab packte die Sekretärin am Arm. »Sag mal, Süße, wo ist der Bürosafe?«
    »Im Aktenraum!«, antwortete die Sekretärin voller Angst.
    »Zeig’s mir.«
    »Ja, ja … alles, was Sie wollen.«
    Schwab zerrte die junge Frau aus dem Raum.
    Carla brach in Tränen aus, riss sich dann aber zusammen. Sie dachte darüber nach, sich unter dem Schreibtisch zu verstecken, ließ es dann aber. Sie wollte diesen Männern nicht zeigen, wie groß ihre Angst war. Stattdessen war ihr Trotz geweckt. Aber was sollte sie tun?
    Carla beschloss, ihre Mutter zu warnen.
    Sie schlich zur Tür und spähte in den Flur hinaus. Die Braunhemden drangen in die Büros ein, hatten aber noch nicht das Ende des Gangs erreicht. Carla wusste nicht, ob die Redakteure im Konferenzraum den Aufruhr hören konnten. So schnell sie konnte, lief sie den Flur hinunter, bis ein Schrei sie innehalten ließ. Erschrocken schaute sie in ein Büro und sah, wie Schwab die Sekretärin mit dem roten Barett durchschüttelte. »Wo ist der Schlüssel?«, fuhr er sie an.
    »Ich weiß es nicht!
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