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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Autoren: Ken Follett
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über den Weg, Mutters Chef, ein kräftiger Mann mit dicker Brille. Er starrte auf Carla. »Was soll das?«, fragte er schroff, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. »Sind wir jetzt ein Kindergarten?«
    Maud reagierte nicht auf seine Grobheit. »Ich habe über Ihren gestrigen Kommentar nachgedacht«, sagte sie stattdessen.
    »Welchen?«
    »Sie sagten, der Journalismus habe große Anziehungskraft auf junge Leute, nur dass sie nicht wissen, wie viel Arbeit dieser Beruf mit sich bringt.«
    Jochmann runzelte die Stirn. »Habe ich das gesagt? Wenn ja, stimmt es.«
    »Deshalb habe ich heute meine Tochter mitgebracht. Ich möchte ihr unseren Berufsalltag zeigen. Das wird gut für ihre Entwicklung sein, besonders wenn sie mal Journalistin werden will. Sie wird einen Aufsatz über ihren Besuch hier schreiben. Ich war mir sicher, dass Sie nichts dagegen haben.«
    Natürlich hatte Maud das alles nur erfunden, aber in Carlas Ohren klang es so überzeugend, dass sie es beinahe selbst geglaubt hätte. Offenbar hatte Mutter den Schalter für ihren Charme doch noch gefunden.
    »Ich dachte, Sie erwarten heute wichtigen Besuch aus London«, sagte Jochmann.
    »Ja. Ethel Leckwith. Aber sie ist nur eine alte Freundin … Sie kennt Carla schon von klein auf.«
    Jochmann zeigte sich besänftigt. »Hm. Gut, in fünf Minuten ist Redaktionskonferenz. Ich muss nur noch schnell ein paar Zigaretten holen.«
    »Carla holt sie Ihnen.« Maud wandte sich ihr zu. »Drei Häuser weiter ist ein Tabakladen. Herr Jochmann raucht Roth-Händle.«
    »Oh. Fein. Das spart mir den Weg.« Jochmann gab Carla eine Mark.
    »Wenn du zurückkommst«, sagte Maud, »steig die Treppe rauf. Du findest mich gleich neben dem Feuermelder.« Sie drehte sich um und hakte sich selbstbewusst bei Jochmann unter. »Ich glaube, die Ausgabe letzte Woche war die beste, die wir je hatten«, sagte sie und ging mit ihrem Chef nach oben.
    Carla lächelte. Dank ihrer bewährten Mischung aus Dreistigkeit und Koketterie war Mutter wieder mal durchgekommen. »Wir Frauen«, sagte sie öfters, »müssen alle Waffen einsetzen, die uns zur Verfügung stehen.« Als Carla jetzt darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass auch sie selbst diese Taktik benutzt hatte, um von Herrn Franck mitgenommen zu werden. Vielleicht war sie ja doch wie ihre Mutter. Und vielleicht hatte Mutter ihr dieses seltsame kleine Lächeln geschenkt, weil sie sich in ihr, Carla, wiedererkannte – als das Mädchen von vor dreißig Jahren.
    Vor dem Tabakladen gab es eine kleine Schlange. Die Hälfte aller Berliner Journalisten schien sich hier den Tagesvorrat zu kaufen. Endlich bekam Carla die Packung Roth-Händle und kehrte ins Gebäude des Demokrat zurück. Den Feuermelder hatte sie schnell gefunden – einen großen Hebel an der Wand –, aber Mutter war nicht in ihrem Büro. Bestimmt war sie bei der Redaktionskonferenz.
    Carla ging den Flur hinunter. Sämtliche Türen standen offen, und die meisten Räume waren leer; nur ein paar Frauen, wahrscheinlich Sekretärinnen, hielten die Stellung. Im hinteren Teil des Gebäudes entdeckte Carla eine geschlossene Tür; auf einem Schild stand: Konferenzraum. Carla hörte die Stimmen von Männern, die lautstark diskutierten. Sie klopfte an. Keine Reaktion. Sie zögerte; dann drückte sie die Klinke hinunter und öffnete die Tür.
    Die Luft war voller Tabakrauch. Acht oder zehn Leute saßenan einem langen Tisch. Mutter war die einzige Frau. Alle verstummten beim Anblick Carlas. Verwundert beobachteten sie, wie das Mädchen zum Kopf des Tisches ging und Herrn Jochmann die Zigaretten und das Wechselgeld gab.
    »Danke«, sagte er.
    »Gern geschehen, Herr Jochmann«, erwiderte Carla höflich und machte einen Knicks.
    Die Männer lachten. Einer sagte: »Ist das Ihre neue Assistentin, Jochmann?«
    Carla fiel ein Stein vom Herzen. Alles war in Ordnung. Frohen Mutes verließ sie den Konferenzraum und kehrte in Mutters Büro zurück. Sie zog ihren Mantel nicht aus, denn es war kalt hier drinnen. Neugierig ließ sie den Blick schweifen. Auf dem Tisch standen ein Telefon und eine Schreibmaschine. Daneben lagen Papierstapel und Durchschlagpapier.
    Neben dem Telefon entdeckte Carla ein gerahmtes Foto, auf dem sie mit Erik und ihrem Vater zu sehen war. Es war vor ein paar Jahren am Wannsee aufgenommen worden, gut zwanzig Kilometer vom Stadtzentrum Berlins entfernt. Vater trug eine kurze Hose. Alle lachten in die Kamera. Damals hatte Erik noch nicht so getan, als wäre er schon ein Mann.
    Das
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