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Wieweitdugehst - Wieweitdugehst

Wieweitdugehst - Wieweitdugehst

Titel: Wieweitdugehst - Wieweitdugehst
Autoren: Friederike Schmöe
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hatte, fand ich mich in einer eilig freigeräumten Ecke eines Bierzeltes sitzend, einen Becher Kaffee in der Hand. Draußen sank längst die Dämmerung herab. Die Dunkelheit kam schon früh an diesem 23. September. Ein Polizist hatte mir gut zugeredet, meinen Arm genommen und mich hier abgeladen. Aus den Gesprächsfetzen um mich her hörte ich heraus, dass ein Junge gestorben war. Ein Junge. Also kein erwachsener Mann und mithin nicht Nero. Ich stellte verzweifelt fest, dass es mir Erleichterung verschaffte, vom Tod eines Kindes zu hören. Sigrun West tauchte kurz auf und raunte mir zu, es sei alles in Ordnung. Was genau sie damit meinte, wollte ich nicht so genau durchdenken. Ich zwang mich, darauf zu vertrauen, dass Nero o. k. war und mit ihm die anderen Kollegen, die den Ritt in ›The Demon‹ gewagt hatten. Ein Junge war tot – dass er nicht vor Schreck gestorben war, konnte ich mir selbst denken. Die Youngsters heutzutage hatten vor nichts Angst. Sie sogen die Horrorfilme quasi mit der Muttermilch auf.
    Sanitäter kümmerten sich um die Leute, die der Geisterbahn mittlerweile entkommen waren. Schwere Verletzungen schien es nicht zu geben. Die meisten litten an Schocks oder hatten kleinere Blessuren, die sie sich bei der überstürzten Flucht aus ›The Demon‹ zugezogen hatten. Trotz der Hektik und Betriebsamkeit sprachen alle mit gedämpfter Stimme. Kein lautes Fluchen, kein Schreien.
    Eine Polizistin brachte zwei Frauen zu mir.
    »Setzen Sie sich einen Moment. Es kümmert sich gleich jemand um Sie.«
    »Waren Sie nicht …?«, fragte die Jüngere.
    »Ja, Sie kamen mir in die Bahn nach.« Ich nickte. »Alles in Ordnung mit Ihrer Mutter?«
    Die Ältere lächelte mir zu. Eine runde, kleine Frau, ganz in Schwarz, Rock und Bluse, mit langem, grau meliertem Haar, das sie hochgesteckt trug, und das bei der Aufregung ins Rutschen geraten war.
    »Ja. Ich heiße übrigens Neta Kasimir«, stellte die Jüngere sich vor.
    Ähnlich sah sie ihrer Mutter nicht. Ihre Haut war milchweiß, übersät mit Sommersprossen. Das Haar rötlich-blond, kinnlang, ganz gerade geschnitten.
    »Kea Laverde.«
    »Liliana Bachmann.« Die Ältere ließ sich auf der Bank nieder, griff in ihr Haar und steckte es wieder zurecht.
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Neta setzte sich neben ihre Mutter, legte den Arm um sie, und diese lehnte ihren Kopf an die Schulter ihrer Tochter. Das sollte mir mit meiner Mutter mal passieren. Doch letztlich war man ja aus dem Alter heraus, wo man noch Trost und Zärtlichkeit erwartete.
    Gerade jetzt hätte ich allerdings ein wenig Beistand gebraucht. Ich dachte an Juliane, meine 78-jährige Freundin, die ich in seltenen Momenten mit dem Attribut Adoptivmutter bedachte. Aber anders als Liliana Bachmann war Juliane nicht rund und weich. Sie hatte so gar nichts Mütterliches an sich, jedenfalls nicht äußerlich, war dünn wie ein Strich, trug das Haar fedrig kurz geschnitten, kleidete sich in Jeans und T-Shirts mit freakigen Aufschriften. Sie fehlte mir. Ich hatte irgendjemanden zum Anlehnen nötig, und Juliane war in Situationen wie dieser zu einer sehr großzügigen Definition dessen fähig, wer ihre Kinder waren.
    »Ich habe Sie aus der Gondel aussteigen sehen. Bevor es losging«, sagte ich, als ich den Anblick dieser beiden selbstvergessenen Frauen nicht mehr ertragen konnte.
    Neta nickte. »Mein Handy klingelte. Ich bin Freiberuflerin. Immer auf der Jagd nach Aufträgen.«
    »Dann haben wir etwas gemeinsam.«
    »Was machen Sie?«, erkundigte sich Liliana, richtete sich auf und nahm dankend einen Plastikbecher mit Wasser entgegen, den ihr die Polizistin von vorhin auf einem Tablett reichte. Die Ordnungshüter hatten etwas von Sozialarbeitern an sich. Ich hätte gern gelästert, und wäre Juliane hier gewesen, hätte ich mir eine passende Bemerkung nicht verkneifen können. Lästern machte mir nämlich mächtig Spaß.
    »Ich bin Ghostwriterin.«
    »Also sind wir sozusagen Kollegen.« Neta griff sich ebenfalls einen Becher und trank ihn in einem Zug aus.
    »Wie – Sie auch?«
    »Ich bin von der mündlichen Truppe«, entgegnete Neta leichthin. Ihre Mutter lachte.
    »Will heißen?«
    »Ich arbeite als Geschichtenerzählerin.«
    Bums. Das klang gut. Nach Märchen, alten Burgen, Feen und Trollen.
    »Ich weiß, man kann sich erst einmal wenig unter diesem Beruf vorstellen«, fuhr Neta fort. »Aber eigentlich ist es ganz einfach. Ich erzähle Kranken und Trauernden, Menschen in schwierigen Lebenssituationen
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