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Wieweitdugehst - Wieweitdugehst

Wieweitdugehst - Wieweitdugehst

Titel: Wieweitdugehst - Wieweitdugehst
Autoren: Friederike Schmöe
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Geschichten. Zum Trost, zur Ablenkung, wie auch immer.«
    »Und davon kann man leben?«, entfuhr es mir.
    »Kann man.« Neta lächelte, und Liliana warf ihr einen bewundernden Blick aus dunkelbraunen Augen zu.
    »Nach welchen Gesichtspunkten wählen Sie die Geschichten aus, die Sie erzählen?«
    »Das ist eine sehr technische Frage«, lachte Neta, griff nach Lilianas Hand und hielt sie fest. »Ich unterhalte mich mit den Menschen, dann erfahre ich schon, was sie am meisten belastet. Einsamkeit, Angst, Schmerz … und danach entscheide ich mich, welche Geschichte, welches Thema am besten passt. Im Endeffekt geht es immer um ähnliche Motive. Die Geschichte, die ich erzähle, soll die Angst mildern, den Schmerz dämpfen, manchmal auch Wut und Zorn anfachen. Wut ist eine starke Kraft.«
    Ich hätte alles sofort unterschrieben. Wenn ich an etwas glaubte, dann an die Kraft der Fantasie und der Gedanken. Brauchte ich etwas, stellte ich es mir vor, und schon besaß ich es – im Kopf zumindest. Nach dieser Devise hatte ich mein bisheriges Erwachsenenleben verbracht. Es war mir damit nicht unbedingt schlecht ergangen.
    »Neta ist eine außerordentlich gute Geschichtenerzählerin«, warf Liliana ein. Sie klang, als sei sie sehr stolz auf ihre Tochter.
    Wie alt sie wohl ist?, dachte ich. Mitte 60, nicht älter. Neta musste jünger als ich sein. Ich war mittlerweile 40 und quälte mich mit dem Gedanken, in Kürze zu rostigem Alteisen zu werden.
    »Denken Sie sich Ihre Geschichten selbst aus?«, fragte ich neugierig. Ich persönlich hielt mich in meinem Job an die Vorgaben meiner Kunden. Wenn es nötig war, dichtete ich ein bisschen hinzu oder strich etwas weg. Aber ich folgte dabei immer den Wünschen meiner Brötchengeber.
    »Es gibt nur zwei Plots«, sagte Neta. »Jemand unternimmt eine Reise. Oder: Ein Fremder kommt in die Stadt.«
    Das stimmte. Die Biografien, die ich schrieb, ließen sich jedes Mal auf einen dieser Stoffe reduzieren.
    »Wer hat dich eigentlich vorhin angerufen?«, fragte Liliana ihre Tochter. »Kundschaft?«
    »Genau. Meistens melden sich Verwandte oder Freunde von Trauernden bei mir«, erzählte Neta. »Sie haben irgendwo von mir gehört. Mundpropaganda ist meine beste Werbetrommel. Ständig sind Leute krank oder verlieren jemanden, den sie lieben. Nach einer gewissen Weile, wenn die Aufgaben, die sie bewältigen müssen, geschafft sind, wenn die große Leere kommt, weil keine Entscheidungen mehr getroffen werden müssen, dann komme ich.«
    Liliana nickte und lächelte. Noch immer hielt Neta ihre Hand.
    Sie reichte mir ihre Visitenkarte. Ich gab ihr meine. Wir sahen uns an und lächelten, beinahe peinlich berührt.
    »Ich bin fast verrückt geworden, weil Liliana allein in der Bahn war«, sagte Neta. »Und als dann die Gondeln stehen blieben …«
    »Was ist da drin passiert?«, fragte ich.
    Schützend legte Neta ihren Arm um Liliana. Als habe sie Angst, meine Frage könne sie umwerfen.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Liliana leise. »Plötzlich blockierten die Gondeln. Nichts ging mehr. Die Effekte schalteten sich aus, es war totenstill, keine Geräusche mehr. Alles lag im Finstern.«
    »Haben Sie vorher etwas Ungewöhnliches gehört?«, fragte ich.
    »Nein.« Liliana sah mich beinahe verblüfft an. »Die Polizisten sagen, ein Junge wäre gestorben. Wie kann das sein?«
    »Gute Frage.« Ich lehnte mich zurück, vergaß, dass die Bierbank keine Lehne hatte, und wäre fast vom Sitz gekippt. »Ich habe keine Ahnung.«
    »Ich habe vor Kurzem meinen Mann verloren«, sagte Liliana. »Vor zwei Jahren ist mein Sohn gestorben. Die arme Mutter! Ihr Kind zu verlieren.«
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Hilflos sah ich zu Neta. Die schmiegte ihre Wange an Lilianas Haar und küsste ihre Strähnen. Meine Güte. Was für eine Liebe. Ich war dankbar, als die Polizistin von vorhin auftauchte: »Frau Laverde, kommen Sie bitte?«

6
    Am Checkpoint liefen sie ein. Die Mädchen und Frauen, die sich trauten. Hauptkommissarin Bianca Heinrichs bekam dann nur die harten Fälle auf den Tisch. Alles andere erledigten die Kolleginnen. Wenigstens hatte sie durchgesetzt, dass im Checkpoint so viel weibliches Personal wie möglich arbeitete. Mit oder ohne Uniform – sie mussten der Wiesn endlich das Klischee abkaufen, dass hier auf Teufel komm raus gegrapscht wurde, weil in der Enge, in der Masse, im Dunkel des beginnenden Alkoholkomas alles möglich wurde. Und im Dunkel des Septemberabends. Die Männer sahen sich dabei auf
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