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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman
Autoren: Kerstin Cantz
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eingetroffen war, hatte ein Schreckensbild das nächste in Elsas Gedanken abgelöst. Malvine las das Schreiben zuerst, dann Hersilie.
    Sie hatte nach Luft geschnappt.

    »Seine Majestät, der König, wünscht dich in Paretz zu sehen, ärmstes Kind.«
    Sie lieh ihr den weißen Pelz. Malvines Ratschläge bis zur Abfahrt blieben, da sie von so vielem nicht wusste, derart vage, dass sie Elsas Nervosität bis hin zur Unerträglichkeit steigerten.
    Und nun, während die brandenburgische Landschaft gleißend an ihr vorüberzog, kam Elsa zu der überraschenden Erkenntnis, dass es ihr guttat, allein zu sein. Zum ersten Mal seit Tagen und Nächten konnte sie wieder klar denken, da sich kein Mensch um sie kümmerte und sorgte.
    Sie musste die Verzagtheit abschütteln, die sie seit der Verhaftung Helenes ergriffen hatte, ihre lähmende Angst. Beim König konnte sie nur etwas erreichen, wenn sie ihm aufrecht entgegentrat. Alles andere war eine Frage des richtigen Zeitpunkts.
     
    Er empfing sie im kleinen Gartensaal des Landguts, das sie zum ersten Mal sah und dessen Schlichtheit sie überraschte. Man ließ heiße Schokolade bringen, und wie ausgiebig Seine Majestät die gute Milch der eigenen Meierei lobte, machte Elsa ebenso Mut wie die fröhlichen Farben der gestickten Schmetterlinge auf den Kattunstoffen der Möbel. Während ihr in den sommerlichen Dekorationen des Zimmers neben dem Kaminfeuer langsam wärmer wurde, blickte der König hinaus in den verschneiten Park. Er gab seiner Hoffnung auf weiße Weihnachten Ausdruck, bevor er sich zu ihr umwandte und auf ihren Vater zu sprechen kam.
    Er fand, dass es ihre Aufgabe war, ihn zu beerdigen. Er würde sie freigeben, sagte er, ab sofort, damit sie seinen Leichnam nach Marburg überführen konnte. Das Gretchen
würde fürs Erste eine andere spielen. Dem Intendanten habe er entsprechende Order gegeben. Man überlegte, die Stich aus Wien zurückkommen zu lassen.
    Es blieb Elsa nur eines. Sie warf sich dem König zu Füßen.
    Dass sie spielen müsse, um nicht an ihrem Schmerz zu zerbrechen, flehte sie. Schon ihre Mutter beerdigen zu müssen habe sie beinahe umgebracht. Seine Majestät erinnere sich womöglich an ihre schwere Erkrankung, die sie auf Gut Vredow nur knapp überlebt habe. Und ihre kleine Schwester, die sich aufgrund schlimmster Irrtümer in Gewahrsam befand, könne sie keinesfalls allein zurücklassen, nicht für einen einzigen Tag. Sie hatten doch nur noch einander auf dieser Welt. An dieser Stelle musste sie die letzten Bemühungen um Contenance aufgeben. Die Wucht des Schmerzes, den sie wahrhaftig fühlte, riss sie mit sich fort, bis der König seinen steifen Rücken beugte, um ihr aufzuhelfen.
    »Fatale Sache, dieser Verdacht gegen Ihre Schwester«, sagte er, wobei er sich einige Male zu räuspern hatte, denn er ertrug es nicht, wenn eine Frau in seiner Gegenwart weinte. »Ließ mir sagen, es gibt Zweifel an ihrer Schuld. Sie hat Fürsprecher. Fehlt jedoch an Beweisen ihrer Unschuld. Fatal in der Tat.«
    Seine Majestät wandte sich wieder den Fenstern zu. Es hatte aufgehört zu schneien. An der Seite des Königs trocknete Elsa ihre Tränen.
    »Dann soll sie spielen in Gottes Namen.«
    Sie beschämte ihn nicht mit weiteren Ausbrüchen ihrer talentvollen Empfindsamkeit, sondern dankte ihm ruhig und ergeben. Gemeinsam mit ihm sah sie die Sonne aus den Wolken hervorbrechen und wie sie den Schnee auf den Bäumen zum Glitzern brachte. Es machte sie ruhig, diesen Anblick
mit ihm zu teilen. Plötzlich war sie überzeugt, dass sie auch für Helene alles würde erreichen können. Sie wusste nur noch nicht, wie.
    »Wie befindet sich Ihre Gemahlin, die Fürstin, in diesen Tagen?«, fragte sie.
    Der Monarch zeigte sich erleichtert, dass sie auf einen anderen Gegenstand zu sprechen kam.
    »Sie war eine kurze Zeit unpässlich«, sagte er. »Konnte niemanden bei sich dulden als nur die von Helmer. Wieder ausgezeichnet, ihr Zustand. Ist beim Schlittschuhlaufen. Vergnügt.«
     
    Sie hatten das Dorf Paretz eben hinter sich gelassen, als die Kutsche plötzlich zum Stehen kam.
    Sie hörte Männerstimmen, ohne ein Wort zu verstehen, und erschrak zu Tode, als sich der Wagenschlag öffnete. Ein Furcht einflößender Mann mit Augenklappe ließ sich grußlos ihr gegenüber in die Polster fallen.
    »Wir haben zu reden«, sagte er.
    Erst, als die Kutsche sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, erkannte sie Moritz, der neben ihnen ritt und ein zweites Pferd am Zügel mit sich
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