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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman
Autoren: Kerstin Cantz
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durch die Tür des Bureaus treten und bestätigen würde, dass sie gemeinsam das erste Opfer des Engelmachers gefunden hatten, dass sie an seiner Seite und allein durch ihn mit dem Bordellviertel Berlins bekannt geworden
war und dass er für sie verdammt noch mal die Hand ins Feuer legen würde. Man versicherte ihr, man werde ihn zu gegebener Zeit anhören, und seitdem fragte Helene sich, wann das sein würde. Darüber war die Nacht vergangen, in der sie im Übrigen nicht frieren musste, da man den Eisenofen angefeuert und ihr mehr als nur eine Decke gegeben hatte. Alles in allem wohl, weil man eine unerklärliche Spur von Respekt empfand oder möglicherweise auch nur, weil sie soeben ihren Vater verloren hatte.
     
    Durch das vergitterte Fenster ihrer Zelle, die sich im rückwärtigen Gebäudeteil der Stadtvogtei am Molkenmarkt befand, beobachtete Helene den Sonnenaufgang über der Spree, als man ihr den Besuch des Barons von Vredow ankündigte.
    Sie hatte Moritz vertraut, seit sie ihm zum ersten Mal im Zimmer ihrer Schwester gegenübergetreten war, auf der Stelle ahnend, dass sie ihn würde lieben können wie einen älteren Bruder, den sie sich als Kind manchmal heimlich gewünscht hatte, wenn sie sich wieder einmal wie eine ältere Schwester gefühlt hatte, obwohl sie doch die jüngere war.
    Daher überraschte es sie nicht, dass er kam. Als er, wegen seines hohen Wuchses gebeugt, durch die dickwandige Türöffnung der Zelle trat, musste sie haltlos weinen, und wie viel Trost sie brauchte, bemerkte sie erst, als er sie in die Arme schloss.
    »Es macht sich bezahlt, dass Staatsrat Le Coq ein Freund meines Vaters gewesen ist«, sagte Moritz. »Endlich ist er einmal für etwas gut, mein Herr Vater, und somit Friede seiner Asche.«

    Sofort bereute er seine Taktlosigkeit, die doch nur vermeintlich eine war, und entlockte Helene damit völlig unbeabsichtigt ein Lächeln. Sie hatte ihn wirklich sehr gern.
    »Es gibt eine Person, um die ich sehr fürchte«, sagte sie leise, während sie sein blütenweißes Taschentuch entgegennahm. »Genauer gesagt, sind es eine und zwei noch sehr unvollständige Personen, die möglicherweise in Gefahr sind und aus Berlin fortgebracht werden müssen.«
    »Ich fürchte an erster Stelle um Sie, Helene«, sagte Moritz. »Wie ich den Staatsrat verstanden habe, wird es außerordentlich schwierig sein, Sie von diesen Verdächtigungen reinzuwaschen.«
    (»Nahezu unmöglich«, waren Le Coqs genaue Worte gewesen, doch natürlich hätte Moritz sie das zu jenem Zeitpunkt niemals wissen lassen.)
    »Man muss den wahren Täter finden«, sagte Helene.
    Und noch während sie ihn bat, mit Blunck in Kontakt zu treten, erübrigte sich ihre Bitte ebenso wie das Ringen mit der Frage, ob sie Moritz über den Brief einweihen sollte, den Eveline bei Elsa gefunden und den sie unverzeihlicherweise verbrannt hatte (was ihr ein weiteres beängstigendes Detail in Erinnerung brachte).
     
    Blunck, der sich Förmlichkeiten wie üblich sparte und damit wohlweislich gar nicht erst auf den Tod ihres Vaters zu sprechen kam, wurde von dem Sergeanten, der sich bei Helenes Verhaftung neben dem Sektionstisch erbrochen hatte, in die Zelle eingelassen.
    Er wollte vor allem eines wissen: wo Helene sich in der Nacht aufgehalten hatte, als Wanda Reinboth von Lula in die Charité gebracht worden war. Beim Aktenstudium und
in Kenntnis der Vernehmungsprotokolle warf sich ihm die gleiche Frage auf, wie sie die Kriminalinspektoren immer wieder aufs Neue an Helene gestellt hatten. Warum nämlich sie nicht Zeugnis über den Abend und die nachfolgende Nacht des Paganini-Konzerts ablegte, wenn sie damit ihre Unschuld beweisen konnte?
    Wortlos nahm er hin, dass sie im Interesse anderer Personen darauf nicht antworten konnte.
    Stattdessen gab er ihr etwas zu lesen, denn er hatte erwirkt, wonach sie verlangte, seit sie mit den Ursachen ihrer Festnahme konfrontiert worden war. Dass sie den Brief zu sehen bekam, der sie beschuldigte.
    Helene erkannte die Schrift sofort. Sie zog Blunck ebenso ins Vertrauen wie Moritz, der sich abwenden musste und sehr mit sich zu kämpfen hatte.

TAG ZEHN
    Es schneite seit den frühesten Morgenstunden, und es hatte Elsa zu der verzweifelten Hoffnung bewogen, man würde nicht fahren können. Doch die Equipage kam pünktlich, sie abzuholen, und der unablässig in feinen Flocken herabtreibende Schnee bot auf der Landstraße kein ernst zu nehmendes Hindernis.
    Seit die Depesche mit dem königlichen Siegel
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