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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman
Autoren: Kerstin Cantz
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müssen hatte ihm alles vor Augen geführt, was er niemals erreichen konnte. Es war ihm unerträglich, welche Privilegien diese Frau genoss.
    Sein Hass war unermesslich.
     
    Man sorgte dafür, dass Helene und Reichel einander nicht begegnen mussten, während man ihn hinter Gitter brachte und Blunck sie zur Droschke vor der Vogtei begleitete, wo Professor Hähnlein sie in Empfang nahm.
     
    Sie fuhren Unter den Linden. Ein leichter Wind fegte den Schnee von den Bäumen, als die Droschke in die Französische Straße abbog.
    »Wie fassungslos wir noch immer sind!«, sagte Hähnlein. »Wer hätte dies jemals vermuten können? Er war all die Zeit in unmittelbarer Nähe. Er hat uns beobachtet, während wir uns an den Leichen seiner Opfer quälende Fragen stellten. Fast muss man davon ausgehen, dass er es genossen hat. Glauben Sie mir, zwei Sergeanten waren nötig, um Novak davon
abzuhalten, sich mit dem nächstbesten Skalpell auf den Mann zu stürzen.«
    Als die Droschke vor Hersilies Haus hielt, wartete Eveline bereits in der geöffneten Tür.
    »Der Zustand Ihrer Schwester sollte Sie nicht erschrecken«, sagte Hähnlein, der vor Helene ausgestiegen war. »Hufeland visitiert sie täglich. Die königliche Familie besteht darauf.«
    Helene war wie betäubt. Sie dachte daran, was Blunck gesagt hatte, als er sie aus der Zelle holte.
    »Ich hoffe, Sie lassen sich nicht abhalten zu erreichen, was Sie verdammt noch mal wollen, nur weil das Schicksal verrückt gespielt hat.«
    Sie ergriff Hähnleins ausgestreckte Hand und stieg aus.

BERLIN, IM JANUAR 1829
    Niemandem war eingefallen, Finlay Gordon zu schreiben. Wohin auch, wer hätte wissen sollen, wo er sich aufhielt?
    Eine unerträgliche Zeitspanne von zahllosen Wochen hatte er unter der Überzeugung gelitten, Helene für immer verloren zu haben. Täglich musste er sich zwingen, dem verzweifelten Empfinden dieses ungeheuren Verlusts nicht in drängenden Briefen Ausdruck zu verleihen, dabei wäre es ihm gleichgültig gewesen, sich zu entwürdigen. Doch er scheute sich davor, Helene zu belästigen.
    Dann eines Abends, als er in einem Speisehaus an der Themse eine seiner einsamen Mahlzeiten einnahm, fiel ihm ein zerlesenes Exemplar des Guardian in die Hände, und in einer Randnotiz las er mit wachsendem Entsetzen über einen haarsträubenden Kriminalfall in Berlin.
    Er schrieb gar nicht erst.
    Finlay traf an dem Tag in Berlin ein, als Rosalie Klemm an Typhus starb.

    Der alten Rosalie war es gelungen, ihren Willen durchzusetzen, sogar schriftlich. Sie hatte ihren Sohn und Professor Hähnlein unterzeichnen lassen.
    Nur in einem Punkt gestattete man es sich, von den testamentarischen Verfügungen Rosalies abzuweichen. Man
versagte ihr die öffentliche Leichenöffnung im Anatomischen Theater, denn da sie nun einmal darauf bestanden hatte, dass Helene Heuser die Leitung der Sektion übernehmen sollte, hätte dies ein zähes Ringen mit der preußischen Bürokratie nach sich gezogen, das der Leichnam trotz des klirrenden Winters nicht überstanden hätte, ohne in die verschiedenen Stadien unwiderruflichen Verfalls überzugehen. Im Übrigen scheute man sich nach den Aufregungen des vergangenen Jahres, weitere Aufmerksamkeit auf den Umstand zu lenken, dass eine junge Frau an der Charité unter den Fittichen einiger ihr in väterlicher Sorge wohlgesinnter Gelehrter ihrem privaten Studium der Medizin nachging.
    Bei der Leichenöffnung im Totenhaus der Charité zeigte sich, dass sowohl Rosalie als auch Professor Clemens Heuser mit ihren Vermutungen richtiggelegen hatten.
    (Im Übrigen hatte Clemens noch im Dezember seine letzte Reise in Malvines Begleitung angetreten, da sie befand, seine Töchter mussten aneinander gesunden. Des Weiteren eröffnete es ihr die unerwartete Gelegenheit, sich eines neuen Schützlings anzunehmen. Der junge Siebold hatte darum gebeten, sie in dieser kummervollen Mission begleiten zu dürfen. Denn dass er vorhatte, sich im Gebärhaus zu Marburg um den vakanten Posten des Direktors zu bewerben, beruhte schließlich auf einer Empfehlung des verehrten Gelehrten, die dieser ihm in einem Brief hatte zukommen lassen, bevor die Krankheit ihn ergriff.)
    Beim ersten Blick in Rosalies Bauchhöhle offenbarte sich den Anwesenden der Sektion - Heuser, Hähnlein und Novak - das Wesen der runden Geschwulst, die Helene ertastet hatte. Der Fötus war fest umschlossen von verschrumpften, gehärteten
Eihäuten. Er schlief nahe den Windungen des Darmes. Die linke Hand lag auf dem
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