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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman
Autoren: Kerstin Cantz
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Kälte. Windböen wirbelten den Schnee wie Zuckerstaub über die Stoppelfelder und trieben Gesa Tränen in die Augen. Sie fragte sich, um wie vieles angenehmer wohl die Fahrt in einem geschlossenen und gefederten Reisecoupé auf den winterlichen Landstraßen sei.
    Später in der Nacht lief Gesa ein paar Schritte über den Hof zu den Ställen. Die überhitzte Kammer fliehend, in der die Gebärende einen kurzen, erschöpften Schlummer hielt, stillte sie Hunger und Durst mit einem Krug warmer Milch. Der Himmel war sternenlos, doch sie schenkte ihm keine Beachtung.
    Es begann zu schneien, als die Presswehen der Bäuerin einsetzten, und als Gesa im frühen Morgengrau schließlich aus dem Gutshaus trat, in dem die Herdfeuer für Kaffee und
das Schmelzen von Gänsefett angefacht wurden, schneite es noch immer.
    Sie stieß die Hände in ihre Filzhandschuhe, nahm das Umschlagtuch unter dem Kinn zusammen und lief mit gesenktem Kopf auf den Pferdeschlitten zu, der im Hof auf sie wartete. Sie ließ sich vom Kutscher hinaufhelfen, atmete die klare, kalte Luft ein, bis es schmerzte, und vertrieb damit die menschlichen Nestgerüche nach Blut und Mutterfluss, Schweiß und Hühnersuppe.
    Die Leute hatten Gesa eingeladen, sich auszuruhen in einem angewärmten Bett, man wollte sie bewirten nach der Geburt ihres fünften gesunden Kindes, das nach einer Wendung leicht auf die Welt gekommen war. Der Bäuerin wäre es lieb gewesen, die Hebamme noch eine weitere Nacht dazubehalten, wenigstens bis man den Pfarrer zur Taufe im Haus hatte, denn es war zu bezweifeln, dass die Witterung es in diesen frostigen Februartagen zulassen würde, das Kind in die Kirche zu tragen.
    Ein ungetauftes Neugeborenes machte die Menschen unruhig, so als könnte seine kleine Seele auf Abwege geraten und das Unglück auf sich ziehen. Wie oft in all den Jahren war Gesa in ähnlichen Fällen ängstlich um eine Nottaufe gebeten worden, die ihr, um der Geistlichkeit nicht ins Gehege zu kommen, nur erlaubt war, wenn ein Kind schwach war und schnell zu sterben drohte.
    Für das in dieser Nacht gesund geborene Mädchen bestand indessen keine Gefahr, urplötzlich und lebensbedrohlich zu erkranken. Seine Haut war rosig, die Lungen kräftig, und seine Winzigkeit lag in der Natur der Sache. Weil man Gesa vertraute und sie kein Wort darüber verlor, dass sie es eilig hatte, entließ man sie mit einem guten Sold und zwei
Kiepen Brennholz, die der Kutscher auf dem Schlitten verschnürte, bis er endlich die Zügel aufnahm, den behäbigen Kaltblüter antrieb und ihn durch die Toreinfahrt lenkte.
    Die weiße Landschaft wirkte leer, die Wälder waren eins mit den Hügeln, entfernte Höfe lagen verschneit in den eisigen Nebeln der Senken verborgen.
    Mit hochgezogenen Schultern grub Gesa sich in die Felldecken ein und tastete mit den Füßen nach den heißen Steinen auf dem Schlittenboden. Zum ersten Mal seit fast dreißig Jahren würde niemand als Lina, ihre Magd, sie zu Hause in der Hofstatt erwarten, wenn sie von einer nächtlichen Geburt kam. Gesa schüttelte sich, um den Anflug von Verzagtheit loszuwerden, und überlegte stattdessen, was zu tun sei, wenn sie die Postkutsche in Marburg nicht erreichen würde. Was, wenn die Passage wegen des Wetters nicht möglich war?
    Den Platz hatte sie vorsorglich in der vergangenen Woche bezahlt, seitdem stand ihr gepackter Koffer bereit, ein kalbsledernes Ungetüm mit wuchtigen Beschlägen, das eigentlich Clemens gehörte. Sie selbst war kaum je gereist, wenn man von Wien absah.
    Und nun Berlin. Obwohl es näher lag als die Kaiserstadt, kam es ihr, mit allem, was sie dort erwarten würde, vor wie eine Reise zum Mond.
    Der Schlitten glitt ruhig durch die Landschaft, und Gesa wurde schläfrig. Von der Hutkrempe des Kutschers brach Schnee und rollte in winzigen Lawinen seinen Umhang hinunter. Während sie die im klingelnden Rhythmus des Schellenbaums wehende Mähne des Pferdes betrachtete, fielen ihr die Augen zu.

    »Wenn die Oranienburger Straße als eine der freundlichsten Berlins gilt«, sagte Caspar von Siebold, »so haben zu dieser Jahreszeit die beschneiten Linden ihren Anteil daran, finden Sie nicht?«
    Helene beobachtete, wie eine dicke Schneeflocke an der Fensterscheibe schmolz. Sie antwortete dem jungen Arzt mit einem Nicken und nahm es in Kauf, für unhöflich gehalten zu werden, solange nur der alte Siebold dies nicht bemerkte. Doch der Professor befand sich in angeregtem Gespräch mit ihrem Vater. Nachdem sie die unter Gelehrten
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