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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman
Autoren: Kerstin Cantz
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nahezu römischen Gesichtszügen,
wobei sich in denen des Älteren auf den ersten Blick eine alarmierende Arroganz bemerkbar machte.
    Bevor sie eingetreten waren, hatte eine Windböe Schneestaub von den goldenen Lettern der lateinischen Inschrift an der Front des großen Gebäudes geweht: »Institutum universitatis litterariae regium Lucinae sacrumperenne in aevum monumentum clementissimi sapientissimi ac justissimi conditoris regis. Friderici Guilelmi III. A. MDCCCXVII«
    »Mein Sohn wird es Ihnen gern übersetzen, Fräulein Heuser«, sagte Elias von Siebold, um sich dann mit einem dünnen Lächeln an ihren Vater zu wenden. »Caspar pflegt eine überschwängliche Liebe zur klassischen Philologie. Ich hatte meine liebe Mühe, ihn zum Medizinstudium zu bewegen. Danken Sie Gott, dass man derlei Flausen bei Töchtern nicht Herr werden muss.«
    »Königliche Universitätsanstalt, Heiligtum der Lucina, immerwährendes Denkmal des allermildesten, allerweisesten und allergerechtesten Gründers König Friedrich Wilhelm III. Im Jahr 1817«, las Helene.
    »Wo haben Sie so gut Latein gelernt?«
    »Ich nahm schon mit meinem zehnten Lebensjahr Privatstunden bei Studenten meines Vaters.«
    »Sie sehen mich beeindruckt.« Caspar von Siebold deutete eine Verneigung an.
    In der Miene ihres Vaters hatte Helene Belustigung aufblitzen sehen, während Professor Elias von Siebold ihre Übersetzungskünste nicht zur Kenntnis genommen oder sie schlichtweg ignoriert hatte. Ihm lag allein daran, den Kollegen aus Marburg durch sein Institut zu führen, wobei sein Sohn an Helenes Seite blieb. Ihr kam es vor, als erteile der Ältere dem Jüngeren hin und wieder das Wort, nur um die eigenen Leistungen
preisen zu lassen, ohne selbst in den Ruf von Eitelkeit und Prahlerei zu geraten.
    Der Professor hatte allen Grund, auf das Haus in der Oranienburger Straße stolz zu sein. Das gepflegte Gebäude mit seinen ansehnlichen Hinterhäusern, Remisen und Stallungen war vor inzwischen mehr als zehn Jahren einem Kammerherrn abgekauft und nach den Wünschen des Gelehrten umgebaut worden.
    Hellblau bemalte Wände und Gardinen in frischem Grün schmückten die großzügigen Wöchnerinnenzimmer, in denen jede ihre eigene Schlafstatt hatte, selbst für die Säuglinge gab es kleine Bettchen. Im himmelblauen Entbindungssaal war das Gebärbett mit weißen Vorhängen abgeschirmt und konnte zu gegebener Zeit von allen Seiten umgangen werden. Kalbslederne Gebärkissen lagen zur Erleichterung der Geburt bereit, und einem lackierten Fässchen an der Wand über dem Wickeltisch konnte Wasser entnommen werden, um die Neugeborenen zu waschen.
    Caspar von Siebold hatte für Helene eine der Salbenbüchsen geöffnet, die auf einem Tisch neben dem Gebärbett standen, und sie die Rezeptur des mit Rosenöl versetzten Schweinefetts beschnuppern lassen. Er ließ sie auch hinter die Türen der hohen Wäscheschränke blicken, wohl weil er meinte, dass dies für eine Hebamme von Interesse sein könnte und nicht etwa die umfangreiche Sammlung weiblicher Becken, die sich im obersten Stockwerk neben dem Auditorium befand.
    »Als ich unlängst eine auswärtige Gebäranstalt besuchte, sah ich im ganzen Haus nur kohlschwarze Wände«, sagte Caspar von Siebold, während sie hinter den Vätern zurückblieben. »Niemand dort schien dies bemerkenswert zu finden.«

    Helene war so höflich, sich in angemessener Weise betroffen zu zeigen. In Wahrheit hatte sie nur zu deutlich das Gebärhaus in Marburg vor Augen, die Lehrstätte ihres Vaters, dessen Direktor er niemals hatte sein wollen.
    Zwar war man aus dem Haus am Grün ausgezogen, einem immer schon übel riechend feuchten, heruntergekommenen Gebäude, in dem von Anbeginn seines Daseins als Gebäranstalt drangvolle Enge geherrscht hatte. Es war ein Haus, das, anders als dieses, den ledigen Frauen, die es aufsuchten, um einer Schandstrafe oder der Kirchenbuße zu entgehen, Angst machte. Die Frauen fühlten sich dort noch elender. Es gab keine doppelten Türen wie hier, um die Schreie der Gebärenden von den Schwangeren fernzuhalten, keine Vorhänge, um die Würde der Frauen vor den Blicken der Studenten zu bewahren. Das Auditorium war Gebärsaal, Bibliothek und Instrumentensammlung in einem. Die wehengeplagten Frauen hatten missgestaltete Embryonen in Glasbehältern sehen müssen, Haken, Zangen und Perforationsbestecke in den Schränken. Daran hatte auch Clemens Heuser, ihr Vater, nichts ändern können. Seinem Vorschlag, die Schränke bei
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