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Jene Nacht im Fruehling

Titel: Jene Nacht im Fruehling
Autoren: Jude Deveraux
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Prolog
    Louisville, Kentucky Januar 1991
    »Warum würde mein Vater mir so etwas antun? Ich dachte, er liebte mich«, sagte Samantha Elliot zu dem Mann, der, soweit sie zurückdenken konnte, der Anwalt und Freund ihres Vaters gewesen war. Daß dieser so sympathische Mann sich insgeheim mit ihrem Vater gegen sie verbündet hatte, verstärkte noch ihren Schmerz und das Gefühl der Verlassenheit, das sie empfand.
    Und dabei hatte sie doch schon Leid genug erfahren. Vor drei Stunden hatte sie am Grab ihres Vaters gestanden und mit heißen, trockenen Augen zugesehen, wie man seinen Sarg in die Grube hinabsenkte. Obwohl sie erst achtundzwanzig war, hatte sie schon mehr Menschen sterben sehen, als andere in ihrem ganzen Leben. Sie war die Letzte ihrer Familie. Ihre Eltern und ihr Großvater lebten nicht mehr, und Richard, ihr Ehemann, war für sie so gut wie tot, denn am Tag, als ihr Vater starb, hatte sie ihr inzwischen rechtskräftiges Scheidungsurteil erhalten.
    »Samantha«, sagte der Anwalt mit leiser, fast flehender Stimme. »Dein Vater hat dich geliebt. Er liebte dich sehr, und weil er dich so sehr liebte, hat er dir ja auch diese Aufgabe übertragen.« Er beobachtete sie genau: Seine Frau hatte gesagt, es mache ihr Sorgen, daß Samantha nicht eine Träne vergossen habe, seit ihr Vater verschieden war. »Gut«, hatte der Anwalt entgegnet. »Sie besitzt die Willensstärke ihres Vaters.«
    »Aber ihr Vater ist doch gar nicht so willensstark gewesen«, hatte seine Frau heftig erwidert. »Samantha war es, die immer stark sein mußte. Und nun hat sie dabeigestanden und zugesehen, wie ihr Vater vor ihren Augen dahinsiechte und starb, doch sie hat das alles auf sich genommen, ohne auch nur eine Träne zu vergießen.«
    »Samantha wäre sein Fels, pflegte Dave stets zu sagen.« Mit diesen Worten hatte der Anwalt seine Aktentasche genommen und das Haus verlassen, ehe seine Frau noch ein weiteres Wort sagen konnte; denn er fürchtete, daß sie sich noch viel mehr ereifern würde, wenn sie den Inhalt von Dave Elliots Testament erfuhr.
    Während er Samantha beobachtete, die ihm in der Bibliothek ihres Vaters gegenüberstand, spürte er, wie sich Schweißperlen in seinem Nacken bildeten, als er sich daran erinnerte, wie er Dave dieses Testament hatte ausreden wollen. Aber es war ihm nicht gelungen. Als Dave seinen Letzten Willen aufsetzte, hatte er nur noch zweiundneunzig Pfund gewogen und kaum mehr sprechen können. »Ich schulde ihr diese Chance«, hatte Dave geflüstert. »Ich habe sie um ihr Leben betrogen, und nun will ich es ihr zurückgeben. Das bin ich ihr schuldig.«
    »Samantha ist eine junge Frau, eine erwachsene Frau, die ihre eigenen Entscheidungen treffen muß«, hatte ihm der Anwalt geantwortet, aber er hätte ebensogut in den Wind reden können. Dave war von seinem Vorhaben nicht abzubringen gewesen.
    »Es ist doch nur für ein Jahr. Das ist alles, was ich von ihr verlange. Ein Jahr. Es wird ihr in New York gefallen.«
    Sie wird New York hassen, hatte der Anwalt bei sich gedacht, seine Meinung jedoch nicht laut geäußert. Er kannte Samantha von Geburt an. Er hatte sie als Kind huckepack getragen, sie lachen und mit anderen Kindern spielen sehen. Er hatte miterlebt, wie sie Wettrennen veranstaltete und ihren Eltern Streiche spielte, wie sie sich über ein gutes Zeugnis freute und wegen einer schlechten Note weinte. Er war Zeuge gewesen, wie sie sich mit ihrer Mutter wegen der Farbe eines Kleides stritt und darüber, ob sie sich die Lippen schminken dürfe oder nicht. Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr war sie in jeder Beziehung ein normales Kind gewesen.
    Aber wenn er sie jetzt, nur ein paar Stunden nach dem Begräbnis ihres Vaters, betrachtete, konnte er sehen, was inzwischen aus ihr geworden war - eine alte Frau im Körper einer jungen, die ihre Schönheit in einem dem Anlaß angemessenen schwarzen Kostüm versteckte, das einer Frau, die dreimal so alt gewesen wäre wie sie, gut zu Gesicht gestanden hätte. Tatsächlich schien sie alles ihr nur Mögliche zu unternehmen, um ihre Weiblichkeit zu verbergen: Sie kämmte ihr hübsches Haar streng nach hinten; sie benützte weder Rouge noch Puder, und ihre Kleider waren formlos, viel zu lang und unbeschreiblich langweilig. Aber noch schlimmer als ihre äußere Erscheinung war ihre innere Verfassung: Seit Jahren hatte Samantha kaum noch gelächelt, und er konnte sich nicht erinnern, wann er sie zuletzt hatte lachen sehen.
    Aber wenn sie einmal lächelte, dachte er, war
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