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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger
Autoren: Alexandra Kui
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Großvater bemerkt sie auf diese Weise erst, als sie
beinahe mit ihm zusammenstößt. Tönges im marineblauen
Trainingsanzug, der noch aus den Achtzigern stammen dürfte,
drahtig und fast einen halben Kopf kleiner als sie, das struppige
graue Haar regennass. Neben ihm steht sein Fahrrad.
    Â»Was treibst du dich denn hier rum?« Normalerweise hat
sie bessere Manieren.Aber sie fühlt sich, als hätte er sie
bei irgendetwas Schändlichem ertappt, und geht automatisch in
die Offensive.
    Tönges antwortet nicht, und weil Liv sich wegen ihres
Tonfalls sofort schämt, fügt sie hinzu: »Bei dem
Wetter, meinte ich. Du holst dir ja sonst was.« Als wäre
er nicht zäher als sämtliche Mitglieder der Familie Engel
zusammen. Sie hat ihren Großvater niemals krank erlebt.
    Da er keine Anstalten macht, mit ihr zu reden oder sie wenigstens
anzusehen, folgt Liv seinem Blick, und eine Weile stehen sie
nebeneinander und betrachten, was von den Lübecker
Metallhüttenwerken zu Herrenwyk, einst größter
Arbeitgeber der Region, die Jahrtausendwende überdauert hat: das
fünfstöckige Fabrikgebäude aus der Gründerzeit –
ein Stahlskelett, versteckt hinter einer Backsteinfassade –,
ein Hochofen und der Kühlturm aus Stahlbeton. Im Sommer wird
hier planes Bauland auf neue Glücksritter warten und nichts mehr
an die Produktion von Koks und Roheisen erinnern. Sofern Liv als
Sprengmeisterin gute Arbeit abliefert, und daran besteht nicht der
geringste Zweifel.
    Â»Hast du dich eingekriegt?«, fragt Tönges
schließlich.
    Â»Ja«, sagt sie und stellt erleichtert fest, dass es
stimmt.
    Â»Schönen Auftrag habt ihr euch da unter den Nagel
gerissen.«
    Liv nickt nicht ohne Stolz. Es war keine Selbstverständlichkeit.
Dass Engel Sprengtechnik in Lübeck ansässig ist, mag
geholfen haben. Um die zahlreichen Mitbewerber aus dem Feld zu
drängen, musste sie trotzdem ein überzeugendes Konzept
vorlegen, was heutzutage vor allem heißt, sparsam zu
kalkulieren.
    Â»Wie viel?«, fragt Tönges, und als sie ihm die
Summe nennt, bescheiden aufgerundet, verziehter nicht wie erwartet
das Gesicht, sondern sagt bloß: »Gut gemacht.«
    Â»Danke schön.« Livs Freude über das Lob ist
ebenso groß wie ihr Erstaunen, und plötzlich verspürt
sie Lust, Tönges zu fragen, ob er für das Projekt noch
einmal in die Firma zurückkehren will. Sie könnten Seite an
Seite arbeiten wie früher, halbe Nächte lang in
Berechnungen und staubige alte Baurisse vertieft. Kaffee,
Zigarettenrauch und langes Schweigen, das nicht trennt, sondern eint
und dann und wann, weit nach Mitternacht, in ein gutes Gespräch
über alles und nichts münden kann, aber nicht muss.
Sentimentales Wunschdenken.Als hätte es die schwierige Zeit vor
seinem Ausscheiden nicht gegeben. Zuletzt hatten sie, gelinde gesagt,
genug voneinander, seine Qualmerei ging ihr auf die Nerven, er störte
sich an dem Kaffeegeruch, seit er selbst keinen mehr trank. Was
schlimmer war: Mit den Jahren hatten die fachlichen Querelen
zugenommen, nicht zuletzt weil Tönges modernen Sprengstoffen und
Zündmechanismen misstraute, sich hartnäckig weigerte,
Computer in die Arbeit einzubeziehen, und ihr jedes Mal Eitelkeit
unterstellte, wenn sie wegen einer spektakulären Großsprengung
ein Fernsehinterview gab.Ausgerechnet ihr. Irgendwann war klar, dass
einer von ihnen gehen musste. Und dass es nicht sie sein würde.
    Livs Stellvertreter Volker Sanders, angeheuert noch von Tönges
vor mehr als fünfzehn Jahren, gesellt sich zu ihnen und wird vom
Firmengründer per Handschlag begrüßt. In der Linken
trägt er eine Tasche mit Schlagzeugzubehör: Becken, Pedal,
Drumsticks. Wie auf Verabredung fällt kein Wort über den
Auftrag oder die Firma. Stattdessen Geschwafel über das laut
Tönges zu milde Februarwetter, bis Liv gähnt.
    Â»Ich muss dann wieder«, sagt Tönges.
    Â»Willst du nicht mit reinkommen und die Jungs begrüßen?«
    Â»Keine Zeit.«
    Früher war er ein besserer Lügner. Seine
Durchschaubarkeit lässt Liv stellvertretend für ihren
Großvater erröten, während Volker Verständnis
heuchelt, anscheinend erleichtert über die Aussicht, den Senior
so schnell wieder loszuwerden: »Immer auf Achse, was?«
    Vielleicht ist er auch nur höflich.
    Â»Muss ja.« Tönges klopft auf den Sattel
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