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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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alte
Hilflosigkeit und die Bitterkeit der Erkenntnis, noch viel mehr
Schuld auf sich geladen zu haben als die, von der sie die ganze Zeit
wusste. Sie hat ihre eigenen Geister mit nach Bjarg gebracht und so
dafür gesorgt, dass der Fluch des Móri vollendet wurde.
    Sie ist schuld an allem.
    Und weil niemand so viel Last tragen kann, erwartet sie ihren
endgültigen Zusammenbruch, was sonst sollte jetzt noch kommen?
Sie wartet und wartet und nichts passiert. Ihr Herz schlägt
weiter, sie fällt nicht in Ohnmacht, und der Dämon springt
ihr nicht an die Gurgel, um sie zu erwürgen. Ewigkeiten
verstreichen in Sekundenschnelle.Auf einen Schlag fühlt Fritzi
sich leicht, und sie begreift, was zu tun ist: Ihr Vater ist tot, der
Mann am Klavier nur eine Erscheinung.
    Atmosphärisch aufgeladene Luft. Und Luft kann ihr nichts.
Jetzt nicht mehr.
    Also nimmt sie selbst auf dem Klavierhocker Platz, genau dort, wo
er sitzt, und greift durch ihn hindurch, beginnt zu spielen,
zögerlich anfangs, weil sie aus der Übung ist, aber Melken
und Klavierspielen verlernt man nicht. Ein Kuddelmuddel von
Dissonanzen. Die Hände des Vaters neben ihren auf den Tasten,
konkurrierend um die Herrschaft über die Töne.Am Ende hört
sie nur noch das eigene Spiel, das Lied ihrer Ankunft in der Bucht
von Reykjavík, und für einen Moment sieht sie wieder den
jungen Isländer Ragnar vor sich, wie er ihr von seinem Boot aus
zuwinkt, während sie an Bord der Esja steht.
    Dann neue Störgeräusche: Das Hämmern von
Rotorblättern, näher kommend. Fritzi steht auf und schleppt
sich mit dem langsamen Gang, zu dem sie seit der Verletzung ihrer
Hüfte gezwungen ist, erneut ans Fenster. Der Helikopter der
Küstenwacht steht in der Luft über den heißen Quellen
von Bjarg. An seinem Rettungsseil hängt ein Mensch.
    Er hätte es schaffen können.Auch ein Jahr nach Rúnars
Begräbnis hat Liv noch immer nicht ihren Frieden damit gemacht,
dass er nicht mehr lebt, dass er einen genauso nutzlosen Tod sterben
musste wie Tönges, sein Opfer.Auch wenn mehr als siebzig Prozent
der Hautoberfläche verbrannt sind, wie es bei Rúnar der
Fall war, besteht heutzutage eine fünfzig-prozentige
Überlebenschance. Fifty-fifty. Er hat sich für die andere
Seite entschieden, ganz sicher, es war eine Entscheidung. Mögen
die Ärzte es auch Verbrennungskrankheit nennen, Zerstörung
der Immunabwehr, Wundnekrosen, Nieren-versagen, fulminante Sepsis mit
dem Zusammenbruch aller Organe.
    Sieben Tage zog Rúnars Sterben sich hin, und in dieser Zeit
hat er reinen Tisch gemacht, nicht nur, indem er einem Beamten der
isländischen Polizei am Krankenbett die genauen Umstände
von Tönges' Tod schilderte,er hat auch Liv alles gebeichtet, was
es zu beichten gab. So gut wie gar nichts an ihrer Begegnung war
echt. Rúnar hat sie bereits in Lübeck bei der Sprengung
beobachtet, er war derjenige, den sie Wochen später nachts auf
der Baustelle überrascht hat.Als sie, wie es alle Fremden in
Island irgendwann tun, die Hallgrimskirche betrat, hat er Liv sofort
wiedererkannt und fortan nur noch eines im Sinn gehabt: sie so
schnell und unauffällig wie möglich aus dem Weg zu räumen,
damit sein Geheimnis niemals ans Licht kommen möge. Für die
Fahrt in die Westfjorde hat er ihr sogar Betäubungsmittel in den
Kaffee geschüttet, in der Hoffnung, sie würde verunglücken.
Was sie ja auch ist.
    All das hätte Liv ihm vergeben können, das Verbrechen an
Tönges nicht. Einen alten Mann totschlagen und ihn anschließend
verscharren wie eine überfahrene Ratte – wie er dazu fähig
war, wird sie nie begreifen können. Ebenso wenig wie sie
kapiert, warum sie sich die Fürsorge für Fritzi Hartmann
alias Inga Engel aufgehalst hat, einer Vatermörderin, wie Liv
inzwischen weiß. Ursprünglich wollte sie die Alte
anzeigen. Warum sie Tönges' Schwester stattdessen einlud, mit
ihr nach Deutschland zu kommen, um das Grab ihres Bruders zu
besuchen, ist ihr bis heute ein Rätsel. Vielleicht, weil sie
ansonsten automatisch auch den Großvater verraten hätte.
    Jedenfalls ist für Fritzi, wie sie weiterhin genannt werden
will, die Rückkehr nach Island ausgeschlossen, da wegen der
falschen Namensangabe bei der Einwanderung ihre Staatsbürgerschaft
verfallen ist. Liv hat ihr gesagt, sie könne in der Kate auf
Fehmarn wohnen bleiben, solange es ihr beliebt.

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