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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger
Autoren: Alexandra Kui
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seines
Fahrrads. Ein Tourenrad mit diversen Schikanen,das er sich extra für
den Ruhestand zugelegt hat. »Damit komme ich mehr rum als je
mit dem Auto.«
    Â»Gut, gut«, sagt Volker. »Das hält fit.
Dann gute Fahrt.«
    Was für eine Farce.
    Als sie wieder unter sich sind, blafft Tönges sie an: »Macht
ihr etwa immer noch diesen Quatsch?«
    Er sieht so aus, als würde er tatsächlich eine Antwort
erwarten, reine Bissigkeit, er weiß genau Bescheid. Der Quatsch
ist die Musik. Kaum war Tönges weg aus der Firma, hat sie mit
einigen der Kollegen eine Band aufgebaut. Ihr Neuzugang, der
Holländer, hat seinen Job unter anderem deshalb bekommen, weil
er im Lebenslauf unter »Hobbys« angab, Gitarre zu
spielen. Für den Abend ist ein Konzert geplant. Tönges hält
nichts von der Sache,das war keine Überraschung für Liv.
Sie wünschte nur, sie könnte ihm vermitteln, wieviel das
Singen ihr bedeutet.
    Â»Wie sollen die Jungs kapieren, dass du der Boss bist, wenn
du ständig nach Feierabend mit denen rumkasperst?«
    Â»Sie kapieren es eben«, sagt Liv, obschon sie denkt,
dass ihr Großvater nicht ganz unrecht hat. Man kommt sich
näher, Grenzen verwischen. Wenn sie singt – und nur dann
–, macht es ihr nichts aus, verletzlich zu sein, es gehört
einfach mit dazu. Seither gerät manchmal auch auf der Baustelle
der Umgang vertraulicher, als ihr lieb ist. Damit muss sie wohl
leben. Es ärgert sie, dass Tönges ihr nicht zutraut, die
Dinge unter Kontrolle zu halten. Wie viele Beweise wird er noch
brauchen, bis er endlich an sie glaubt und darauf vertraut, dass sein
Lebenswerk bei ihr sicher ist? Sicherer jedenfalls, als es bei seinem
Sohn Utz, Livs Vater, gewesen wäre. Nicht, dass der jemals
Interesse gezeigt hätte, die Firma zu übernehmen.
    Â»Hör mal, ich wollte mir eigentlich gerade die Beine
vertreten. Kommst du mit?«, fragt Liv in der Annahme, er würde
sich daraufhin verabschieden und davon radeln.
    Aber er nickt.Also setzen sie sich in Bewegung. Tönges
schiebt sein Rad neben ihr her, sein Schweigen vom rhythmischen
Klickern der Gangschaltung unterlegt.
    Die Fabrik liegt in Sichtweite der Trave. Liv schlägt den Weg
zum Fluss ein, der schnell fließt, als würde er von ihnen
nichts wissen wollen und hätte es deshalb eiliger als sonst, die
Mündung zu erreichen, was sie gut verstehen könnte. Sie
wäre jetzt auch gern am Meer. Obgleich sie die Nähe der
Ostsee schmeckt, das Aroma von Seegras, die Schärfe der
anlandenden Algen, fühlt Liv sich auf seltsame Weise
heimwehkrank. Dabei ist dies ihre Stadt.
    Was tröstet,ist der Blick auf den emsigen Fluss. Das Wasser
hat die Farbe des Winterhimmels angenommen. Eisgrau. Um zum Uferweg
zugelangen, müssen sie einen Abhang überwinden. Rutschige
Erde, die an den Schuhen haften bleibt, ein Trampelpfad im Gebüsch.
Liv geht vorweg, schlittert abwärts, Tönges im Gefolge.Als
sie sich umdreht, um zu sehen,ob er Hilfe benötigt, kommt es ihr
geradezu provozierend vor, wie mühelos er sein Fahrrad und sich
selbst ausbalanciert, ohne auch nur einmal zu straucheln. Unten sind
noch Bahngleise zu überqueren, dahinter erstreckt sich der
Uferweg kilometerweit.
    Liv stapft vorwärts ohne Rücksicht auf Pfützen,
Wasser spritzt auf, der gelbe Kies knirscht nass unter ihren Sohlen.
Es ist kälter geworden, nur noch fünf Grad höchstens,
und während die Feuchtigkeit durch ihre Kleidung dringt,
überlegt sie, wie er es fertiggebracht hat, achtundsiebzig Jahre
alt zu werden, ohne je Schwäche zu zeigen. Sie ist noch keine
vierzig, und an manchen Tagen macht es ihr schon zu schaffen, dass
sie nicht in der Lage ist, ihren Weltschmerz mit jemandem zu
teilen.An Tagen wie diesem. Wenn sie selbst nichtweiß, warum
sie so aufgebracht und zugleich so müde ist.
    Sie sind vielleicht fünf Minuten gegangen, da empfindet Liv
die Anwesenheit ihres Großvaters plötzlich nicht mehr als
anstrengend, eigentlich ist sie sogar froh, in Gesellschaft zu sein,
und sie macht eine nette Bemerkung über sein Fahrrad, weil sie
weiß, wie viel Überwindung es ihn gekostet hat, bei einer
Anschaffung in eigener Sache ausnahmsweise nicht aufs Geld zu achten,
verschwenderisch zu sein. Er schildert ihr die Funktionsweise der
Gangschaltung, nicht zum ersten Mal. Sie lenkt das Gespräch auf
seine Ausfahrten. Es scheint ihm tatsächlich zu
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