Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dexter

Dexter

Titel: Dexter
Autoren: Jeff Lindsay
Vom Netzwerk:
[home]
    1
    D ieser Teil des Krankenhauses ist fremdes Terrain für mich. Keine Schlachtfeldatmosphäre, keine Chirurgen in blutbespritzter OP -Kleidung, die Witze über fehlende Gliedmaßen reißen, keine Verwaltungsangestellten mit Klemmbrett und stählernem Blick, keine Rudel alter Säufer in Rollstühlen und vor allen Dingen keine Herden großäugiger Schafe, die sich ängstlich aneinanderdrängen und auf das warten, was hinter den Doppeltüren aus Stahl passiert. Nirgends der durchdringende Gestank von Blut, Desinfektionsmitteln und Grauen; die Gerüche hier sind freundlicher, anheimelnder. Selbst die Farben sind anders: weicher, pastelliger, nicht trist und schlachtschiffähnlich wie an anderen Wänden des Gebäudes. Tatsächlich findet sich nichts – weder ein Anblick noch ein Geräusch oder ein furchtbarer Geruch –, was ich mit Krankenhäusern assoziiere, absolut nichts. Hier gibt es nur die Ansammlung verträumt blickender Männer vor der großen Scheibe, und zu meiner unendlichen Überraschung bin ich einer von ihnen.
    Wir drücken uns an das Glas und machen jedem Neuankömmling fröhlich Platz. Weiß, schwarz, braun; Latino, Afroamerikaner, Asiat, Kreole – vollkommen gleichgültig. Wir sind Brüder. Niemand feixt oder verzieht das Gesicht; niemand scheint sich an einem gelegentlichen Stoß in die Rippen zu stören; und, Wunder über Wunder, niemand scheint gewalttätige Gedanken gegenüber seinem Nebenmann zu hegen. Nicht einmal ich. Stattdessen drängeln wir uns vor der Scheibe und bestaunen die wunderbare Alltäglichkeit auf der anderen Seite.
    Sind es menschliche Wesen? Ist das wirklich das Miami, in dem ich seit jeher lebe? Oder hat ein befremdliches physikalisches Experiment in einem unterirdischen Labor uns alle nach Bizarro World versetzt, wo jedermann allzeit freundlich, tolerant und glücklich ist?
    Wo ist die muntere, mörderische Meute von gestern? Wo sind die schwerbewaffneten, betrunkenen, halb verrückten, allzeit mordlustigen Freunde meiner Jugend? Ist all das vergangen, verschwunden, fortgespült vom Licht dieses fernen Fensters?
    Welcher phantastische Anblick hinter der Scheibe hat einen Flur voll normaler, bösartiger, Kiefern zertrümmernder, Hälse brechender Männer in eine Ansammlung sanfter, sabbernder Narren verwandelt?
    Ungläubig schaue ich noch einmal hin, und da sind sie. Da sind sie noch immer. Vier ordentliche Reihen rosa und brauner winziger, zappelnder Geschöpfe, so klein und unfertig und nutzlos – und doch haben sie diese Gruppe gesunder, blutrünstiger menschlicher Wesen in eine halb geschmolzene Masse trippelnder Hilflosigkeit verwandelt. Und nicht genug dieser magischen Meisterleistung, noch absurder, dramatischer und unfassbarer hat eines dieser winzigen rosa Bündel unseren düsteren Dilettanten Dexter, die tödliche Drohung, in ein ruhiges, nachdenkliches Ding mit Spucke am Kinn verwandelt. Dort liegt dieses Wesen, winkt mit den Zehen in Richtung der Deckenbeleuchtung und ist sich des Wunders, das es bewirkt hat, vollkommen unbewusst – unbewusst selbst der winkenden Zehen, denn es ist der absolute Avatar des Unbewussten –, und doch, schaut, was es vollbracht hat in seiner ganzen nicht denkenden, unwissenden Zappeligkeit. Schaut hin auf dieses kleine, feuchte, säuerlich riechende Wunder, das alles verändert hat.
    Lily Anne.
    Drei kurze, äußerst alltägliche Silben. Laute ohne wirkliche Bedeutung – doch aneinandergereiht und dem winzigen Bündel Fleisch verliehen, das sich dort auf seinem Podest windet und den mächtigsten aller Zaubertricks vollbracht hat: Dexter, den seit Dekaden Toten in jemanden mit einem Herzen zu verwandeln, das schlägt und echtes Leben pumpt, in etwas, das beinahe fühlt, das einem menschlichen Wesen zum Verwechseln ähnelt …
    Da: Es winkt mit seiner winzigen, mächtigen Hand, und das Neue in Dexter winkt zurück. Etwas wälzt sich herum und steigt in der Brusthöhle auf, prallt von den Rippen ab und greift die Gesichtsmuskeln an, die sich zu einem spontanen, ungeübten Lächeln verziehen. Himmel, war das wirklich ein Gefühl? Bin ich so tief gesunken, so rasch?
    Ja, offensichtlich. Es tut es wieder.
    Lily Anne.
    »Ihr Erstes?«, fragt eine Stimme neben mir, und ich sehe nach links – nur kurz, um nichts von dem Schauspiel hinter der Scheibe zu verpassen. Dort steht ein untersetzter Latino in Jeans und Arbeitshemd, auf dessen Brusttasche der Name MANNY gestickt ist.
    »Ja«, erwidere ich, und er nickt.
    »Ich habe
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher