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Dexter

Dexter

Titel: Dexter
Autoren: Jeff Lindsay
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um, das jetzt falsche Lächeln auf altbekannte Weise ins Gesicht geklebt, und suche den Flur hinter mir ab: als Erstes links bei den Automaten. Ein alter Mann, dessen Hemd in seine viel zu weit hochgezogene Hose gestopft ist, lehnt mit geschlossenen Augen am Getränkeautomaten. Eine Schwester läuft an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten.
    Ich sehe nach rechts, dorthin, wo der Flur in einem T endet, ein Gang führt zu einer Reihe von Räumen, der andere zu den Aufzügen. Und dort ist es, so deutlich wie das Echo auf einem Radarschirm – oder was von dem Echo übrig bleibt, denn jemand biegt um die Ecke zu den Aufzügen. Ich sehe ihn nur noch von hinten, während er davonhuscht. Braune Hose, grünkariertes Hemd und die Sohle eines Turnschuhs, dann ist er fort und lässt keinerlei Erklärung zurück, warum er mich beobachtet hat, aber ich weiß, dass er es getan hat, und das in mir aufsteigende breite Feixen des Passagiers bestätigt mich, als wollte er sagen:
Ach, tatsächlich, was wollten wir noch mal hinter uns lassen?
    Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wieso jemand an meinem bescheidenen Ich interessiert sein sollte. Mein Gewissen ist so sauber und rein, wie es nur sein kann – was selbstverständlich bedeutet, dass ich immer ordentlich hinter mir aufgeräumt habe. Abgesehen davon ist mein Gewissen etwa so real wie ein Einhorn.
    Aber jemand hat mich beobachtet, und das ist mehr als ein wenig beunruhigend, denn ich kann mir keinen harmlosen Grund vorstellen, warum jemand den trüben Dexter beobachten sollte, und zudem muss ich nun bedenken, dass jede Bedrohung Dexters auch eine Bedrohung Lily Annes ist – und das darf ich auf keinen Fall zulassen.
    Der Passagier findet das natürlich höchst vergnüglich: Noch vor wenigen Augenblicken schnupperte ich an den leuchtenden Knospen des Frühlings und schwor den fleischlichen Freuden ab, und jetzt stehe ich erneut auf Zehenspitzen, bereit, zuzuschlagen – aber das ist etwas anderes. Es geht keineswegs um einen der Entspannung dienenden Mord. Es geht darum, Lily Anne zu beschützen, und schon nach diesen ersten Momenten des Lebens würde ich ohne Zögern jedem die Eingeweide herausreißen, der ihr zu nahe kommt. Mit diesem tröstlichen Gedanken schlendere ich zur Ecke und werfe einen Blick auf die Fahrstühle.
    Dort ist niemand. Der Flur ist leer.
    Mir bleiben nur wenige Sekunden des Starrens, kaum ausreichend, um mich mit offenem Mund an meinem Schweigen zu erfreuen, als das Handy an meiner Hüfte zu vibrieren beginnt. Ich ziehe es aus dem Halfter und werfe einen Blick auf die Nummer; es ist Sergeant Deborah, mein eigen adoptiertes Fleisch und Blut, meine Polizistenschwester, die zweifellos anruft, um Lilys Ankunft gurrend zu begrüßen und mir ihre schwesterlichen Glückwünsche auszusprechen. Deshalb melde ich mich.
    »Hi«, sage ich.
    »Dexter«, sagt sie. »Uns fliegt die Scheiße um die Ohren, und ich brauche dich. Komm sofort her.«
    »Ich bin momentan nicht im Dienst«, erinnere ich sie. »Ich habe Vaterschaftsurlaub.« Aber ehe ich ihr versichern kann, dass Lily wohlauf und schön ist und Rita am Ende des Flurs in tiefem Schlaf liegt, nennt sie mir eine Adresse und legt auf.
    Ich gehe zurück und verabschiede mich von Lily Anne. Sie winkt mit den Zehen, sehr lieb, wie ich finde, aber sie sagt kein Wort.

[home]
    2
    D ie Adresse, die Deborah mir genannt hatte, lag in einem älteren Teil von Coconut Grove, was bedeutet, dass es weder Hochhäuser noch Wachhäuschen gab. Die Häuser waren klein und exzentrisch, Bäume und Büsche wucherten in einem aufsässigen Grün, das bis auf die eigentliche Fahrbahn fast alles verbarg. Die Straße war schmal und wurde von überhängenden Banyanbäumen beschattet. Der Platz reichte kaum, um meinen Wagen durch das Dutzend offizieller Fahrzeuge zu rangieren, die bereits eingetroffen waren und die Parkplätze blockierten. Es gelang mir, einen Block weiter eine Lücke neben einem Bambus zu finden; ich quetschte mein Auto hinein und trat den langen Marsch zurück an, meinen Blutanalysekoffer auf der Schulter. Er schien schwerer als sonst, aber vielleicht schwächte mich auch nur die Tatsache, Lily Anne so fern zu sein.
    Das Haus war bescheiden und wurde fast vollständig von der Pflanzenwelt verborgen. Es hatte ein Pultdach, wie sie vor vierzig Jahren »modern« gewesen waren, und davor befand sich ein seltsam verdrehter Metallklumpen, der vermutlich eine Art Skulptur darstellen sollte. Sie stand in einem Teich,
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