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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen
Autoren: Luanne Rice
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Honor dachte an Cormac Sullivan und an alles, was er aus Ballincastle mitgebracht, was er ihrer Familie geschenkt hatte.
    Ein riesiger, orangefarbener Mond ging über der Meerenge auf. Er wölbte sich über der spiegelglatten Oberfläche, hüllte die Wellen in sein schimmerndes Licht. Auf dem Weg nach Hause, zu Regis, Agnes und Cecilia, blickte Honor ihren Mann an, den sie liebte, seit sie ihm hier am Strand zum ersten Mal begegnet war.
    Zehn Meter vom Labyrinth entfernt blieb John plötzlich stehen. Sie sah, wie er die Hand öffnete, die Mondsteine betrachtete. Erinnerte er sich an die Steine, die er ihr geschenkt hatte, an dem Abend, als er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte? Wortlos drehte er sich um und führte sie zurück, Hand in Hand.
    John bückte sich, ließ die Mondsteine, die sie ihm geschenkt hatte, durch seine Finger gleiten, genau in die Mitte des Labyrinths, wo sie gerade gesessen hatten. Sie bildeten ein Spiralmuster, wie die Windungen im Inneren eines Schneckenhauses oder einer Muschelschale, zeitlos, ohne Anfang oder Ende. Als sie der Linie mit den Augen folgte, von innen nach außen, sah sie, dass der äußere Ring des Kreises ihren Blick auf den Hügel des Weingartens lenkte, der sich an dieser Stelle sanft neigte.
    Auf die Steinmauer. War das seine Absicht? Sie wusste es nicht, aber es spielte im Grunde keine Rolle. Alles war miteinander verbunden. So war es, und so würde es immer sein. Die Steinmauern hatten den Lauf der Zeit überdauert, hatten ihre Geheimnisse von Liebe und Leid bewahrt. Sie wusste, das Meer würde das Labyrinth fortspülen, genau wie ihre Sandburgen vor langer Zeit.
    Doch nun war ihr klargeworden, was Johns Vorfahren schon immer gewusst hatte: Felsen und Steine waren unvergänglich und für die Ewigkeit bestimmt. Die Sullivans hatten Materialien benutzt, die durch Feuer und Eis entstanden waren; man konnte sie niederreißen, aber sie ließen sich wieder aufbauen. Auch wenn die Mondsteine mit der Flut aufs Meer hinaustrieben: ihre Familie würde sie wiederfinden. John ergriff ihre ausgestreckte Hand. Das Labyrinth, das er errichtet hatte, zeugte davon, wie weit sie beide gehen und wie hart sie zu arbeiten bereit waren, um zum Kern dessen zu gelangen, was das Leben lebenswert machte.
    Die Luft schmeckte nach Salz und Weintrauben, nach dem Ende des Sommers. Honor fröstelte in der leichten Brise, und John legte schützend den Arm um sie, als sie am Strand entlang zurückgingen. Hinter den Sumpfgräsern sahen sie die Lichter ihres Hauses, die gerade angegangen waren, behaglich und warm. Die Mädchen waren dort, warteten auf sie. Regis brauchte ihre Eltern, und sie waren unterwegs.
    Der Mond stieg höher. Wenn sich Honor umdrehen würde, hätte sie seinen Weg auf dem Wasser verfolgen können, der sich über das ganze Meer, bis nach Irland erstreckte. Doch im Augenblick hatte sie nur Augen für ihr Zuhause.

[home]
    Epilog
    F our Courts, das imposante Justizgebäude von Dublin, stand am Ufer des River Liffey. Die flache, mit Kupfer gedeckte und von einer Laterne gekrönte Kuppel, der Portikus mit seinen sechs korinthischen Säulen und der Skulptur von Moses, flankiert von zwei allegorischen Frauenfiguren – den Göttinnen der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit –, spiegelten sich in dem schiefergrauen Fluss, der unter einer dunklen Brücke nach der anderen dem Meer zustrebte.
    Früh am Morgen hatte es gegossen; Schauer fegten von der Irischen See herüber, es schüttete wie aus Kübeln. Obwohl der Regen im Moment aufgehört hatte, blieb der Himmel verhangen. Genau wie vor sechs Jahren, dachte Agnes, als sie durch die großen Fenster nach draußen blickte. Sie meinte beinahe, das Heulen des Windes oben auf der Klippe zu hören.
    Cece und sie saßen auf einer Bank im großen Wartebereich unter der riesigen Kuppel und warteten darauf zu erfahren, welche Strafe Regis, wenn überhaupt, im Fall Greg White zu erwarten hatte.
    »Was glaubst du?«, fragte Cece nervös.
    »Keine Ahnung«, erwiderte Agnes.
    »Du musst doch eine Vorstellung haben! Kannst du nicht eine von deinen Visionen heraufbeschwören und versuchen, es herauszufinden?«
    Bis vor kurzem hätte sie noch in dem Wetter, das dem an Gregory Whites Todestag glich, einen Fingerzeig des Himmels gesehen, ein unheilvolles Omen. Und in den dunklen, rasch dahinziehenden Wolken erzürnte Engel, die vorwärtsstürmten. Der Versuch, den Mystikerinnen nachzueifern, war kräftezehrend. Sie holte tief Luft und sah ihre Schwester
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