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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen
Autoren: Luanne Rice
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Sand am Ufer saßen und zerbrechliche Türme bauten. Doch Johns Installationen besaßen Ecken und Kanten, waren energiegeladen, bestanden aus Felsgestein und entwurzelten Bäumen; sie zu errichten war gefährlich.
    Jetzt, auf der zerklüfteten Landspitze von West Cork, wurde hinter der nächsten Erhebung die stachelige Spitze seines jüngsten Kunstwerks sichtbar – das nackte, ungeschmückte Geäst eines entwurzelten Baumes, den John hierher geschleppt hatte, an den Rand einer Klippe, deren über dreißig Meter hohe Granitwände fast senkrecht in das aufgepeitschte Meer abfielen.
    Honor stand am Schlafzimmerfenster des Bauernhauses, das er für die Dauer ihres Aufenthalts gemietet hatte, und blickte hinaus. John kam aus der Dusche, legte seine Arme um sie, presste sich an sie. Ihre Kleider waren auf einem Haufen neben dem Bett gelandet. Ihr Skizzenblock lag auf dem Schreibtisch. Sie hatte ein paar Entwürfe gemacht, war aber nicht mit dem Herzen dabei gewesen und hatte aufgegeben, wieder einmal.
    »Was hast du vorhin gezeichnet?«, fragte er, die Lippen an ihrem Ohr. Es klang zaghaft, als sei er nicht sicher, wie sie reagieren würde.
    »Nichts. Du bist doch der Künstler in der Familie.«
    Honor schmiegte sich an ihn und wünschte, sie könnte ihre Gedanken ausschalten und dem Begehren nachgeben, das sie jedes Mal überkam, wenn sie ihren Mann ansah. Hätte er nur nicht nach ihrer Zeichnung gefragt.
    Sie betrachtete das kleine Häufchen Mondsteine – glänzend und glatt geschliffen von den Wellen am Fuß der Klippe, ein Willkommensgeschenk von John, das er ihr in der gleichen Minute überreicht hatte, als sie aus dem Flugzeug gestiegen war; nun lagen sie auf dem Schreibtisch neben ihrem Skizzenblock. Sie wusste, es war als Friedensangebot gemeint, aber tief in ihrem Herzen zögerte sie, es anzunehmen. Sie war völlig durcheinander, ausgelaugt von der Anstrengung, mit ihm Schritt zu halten. Er drehte sie zu sich herum, zog sie an sich und küsste sie.
    »Die Mädchen«, warnte Honor.
    »Sie schlafen«, flüsterte er und deutete auf das Zimmer ihrer Töchter, während er versuchte, sie wieder zum Bett zu lotsen.
    »Ich weiß. Sie leiden unter der Zeitverschiebung und sind erschöpft von der Aufregung, endlich in Irland zu sein und dich wiederzusehen.«
    »Und was ist mit dir?« Er streichelte ihr Haar, küsste die Seite ihres Halses. Seine Stimme klang hoffnungsvoll, als glaubte er aufhalten zu können, was sich zwischen ihnen spürbar anbahnte, bewahren zu können, was ihnen für immer zu entgleiten drohte. »Bist du nicht müde?«
    »Doch.« Sie küsste ihn. Sie war mehr als müde. Sie war ausgebrannt, hatte es satt, sich zu wünschen, er möge endlich nach Hause kommen; hatte es satt, sich Sorgen zu machen, er könnte bei der Arbeit an seinen Installationen, die er stets alleine verrichtete, verletzt werden oder zu Tode kommen; hatte es satt, zu hoffen, er möge begreifen, wie ausgelaugt sie von dem Tribut war, den seine Kunst allen Betroffenen abverlangte. Und sie hatte es satt, sich in ihrem eigenen künstlerischen Schaffen blockiert zu fühlen. Ihr war, als hätte die glühende Inspiration, die ihn beflügelte, ihr eigenes Feuer zum Erlöschen gebracht. Sogar für ihre Skizzen hatte sie seine hoch aufragende Skulptur hinter der nächsten Anhöhe als Motiv gewählt. Sie schaute zum Fenster hinaus, doch die Installation wurde von dem strömenden Regen verschleiert, ein richtiges Unwetter, das an diesem Tag heraufgezogen war.
    Er war gestern mit ihnen zum Rand der Klippe gegangen, gleich nach ihrer Ankunft. Er hatte ihnen die Ruinen einer alten Burg gezeigt, einen hohen Wehrturm, vor tausend Jahren erbaut. Schafe grasten auf den Hängen, die unglaublich steil waren und zum Meer abfielen. Die Schafe liefen frei umher, das lockige weiße Fell mit einem roten oder blauen Farbtupfer gekennzeichnet, damit die Besitzer ihre Herden auseinanderhalten konnten. Sie grasten unmittelbar zu Füßen der Skulptur.
    Es beeindruckte Honor zutiefst, die Arbeiten ihres Mannes hier in Irland zu sehen. Sie hatten lange davon geträumt, das Land ihrer Väter zu besuchen – seit dem Tag vor fünfundzwanzig Jahren, als John, Bernie, Tom und sie das Schatzkästchen in der Steinmauer gefunden hatten. John war stets von dem urwüchsigen Drang beseelt gewesen, zu seinen Wurzeln zurückzukehren, den Geistern seiner Familie nachzuspüren, wie Bernie und Tom es ein paar Jahre zuvor getan hatten. In diesem grünen, uralten Land verschmolzen
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