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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen
Autoren: Luanne Rice
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Schlafzimmer des Cottages.
    »Was ist, Schatz?«, rief Honor zurück, ohne sich vom Fenster wegzubewegen. Draußen ertönte eine Sirene – hauchzart, davongetragen vom Wind, so dass Honor sich fragte, ob sie überhaupt etwas gehört hatte.
    »Mommy …«, sagte Agnes abermals, zögernd und leise.
    »Sag ja nichts!«, wisperte Cece wie eine Souffleuse. »Regis hat es verboten!«
    Honor fuhr herum. Sie eilte in das Schlafzimmer, dass sich die drei Mädchen teilten – genau wie zu Hause –, und sah ihre beiden Jüngsten auf Agnes’ Bett sitzen.
    »Wo ist Regis?«
    »Das wollte ich dir gerade sagen«, erwiderte Agnes im Flüsterton.
    »Aber das dürfen wir nicht«, entgegnete Cece. »Regis hat es verboten.«
    »Was hat sie verboten?«
    »Nicht!« Cece sah Agnes warnend an.
    »Sie ist nach draußen gelaufen, um Daddy zu helfen«, platzte Agnes heraus.
    »Nein. Oh Gott, bitte nicht.«
    Honor war wie erstarrt. Sie hörte abermals die Sirene, oder glaubte es zumindest. Auch wenn sie ihren Ohren nicht traute, das Gefühl, das sich tief in ihrem Inneren ausbreitete, konnte sie nicht ignorieren. Sie verspürte eine unsägliche Kälte, als wäre das Blut in ihren Adern gefroren, und wurde von einer schrecklichen Ahnung ergriffen.
    Sie lief zum Fenster, dann zur Tür. Sie riss die Tür auf, spürte, wie die geballte Wucht des Sturmes sie gegen die Wand drückte. Barfuß, nur mit ihrem Bademantel bekleidet, rannte sie nach draußen. Ihre Füße sanken im kalten Schlamm ein. Ihre beiden jüngeren Töchter folgten ihr, waren an ihrer Seite.
    »Zurück ins Haus!«, schrie sie.
    »Wir haben Angst«, kreischte Agnes. »Lass uns nicht allein!«
    Honor nahm die beiden an die Hand. Atemlos liefen sie zu Johns Skulptur. Gestern hatte sie einer alten Burg geglichen, die sich gegen den Himmel abzeichnete, doch nun war keine Spur mehr von ihr zu sehen. Der strömende Regen und der Nebel hüllten alles ein, verwischten die Konturen der Felsbänke und der grünen Hügel. Sogar die Schafe glichen Wolken, die der Wind über das Meer geweht hatte. Honor hörte abermals eine Sirene und musste mit den Mädchen beiseitespringen, damit der Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht auf dem schmalen Weg an ihnen vorbeifahren konnte.
    »Mommy, was ist passiert?«, schrie Agnes.
    »Was ist los?«, jammerte Cece.
    Honor hatte ebenfalls Angst. Zitternd hielt sie die beiden Mädchen an der Hand. Die kleinen Steine auf dem Weg schnitten ihr in die Füße. Das Blaulicht, das vor ihnen aufblitzte, wies ihnen den Weg. Sie suchte die Anhöhe nach Johns Skulptur ab, konnte sie aber nirgends entdecken – bis sie um die Ecke bogen und die umgekippten Baumstämme und Äste sah, die auf dem Boden lagen, am Rande der Klippe. Die irischen Polizisten standen dicht gedrängt am Abgrund, blickten in die Tiefe.
    »Regis!«, schrie Honor. »Ihr beide bleibt hier«, befahl sie ihren Töchtern. »Rührt euch nicht von der Stelle!«
    Sie ließ die Hände ihrer beiden Jüngsten los und rannte querfeldein. Atemlos blieb sie unweit des Steilhangs stehen. Sie spürte einen stechenden Schmerz in ihren Augen, wie von Messern – der Regen prasselte unbarmherzig auf sie nieder. Sie wagte nicht, einen Blick hinunter zu werfen. Die Klippe war an die dreißig Meter hoch; der Wind trieb sie zurück, und sie musste sich Schritt für Schritt vorwärtskämpfen. Das Herz schwer vor Sorge, überwand sie ihre Angst mit übermenschlicher Anstrengung und spähte in die Tiefe, die schroffen Felsen hinab, die steil zum Meer abfielen.
    In der Erwartung, dass die geliebten beiden Menschen zerschmettert auf den Felsen dreißig Meter unter ihr lagen, stockte ihr der Atem, als sie auf eine schmale, vorspringende Felsbank etwa sieben Meter unter ihr sah. Der Körper eines Mannes lag zusammengekrümmt auf den Felsen, in einer Blutlache, die sich unter seinem Kopf ausbreitete. Regis, die Lippen blauweiß vom Schock, stand neben ihm; eine Polizistin hatte die Arme um sie gelegt. John hob den Blick und entdeckte Honor; seine blauen Augen funkelten vor Wut. Ihre Blicke trafen sich in dem Moment, als die
Gardai
ihm Handschellen anlegte.
    »John!«, schrie Honor die Felsen hinab.
    »Er hat versucht, Regis umzubringen«, rief John.
    »Aber was –«
    »Er hat versucht, mein Baby umzubringen. Da habe ich ihn umgebracht.«
    »Sag kein Wort mehr«, schrie Honor.
    »Zu spät«, meinte ein Polizist und versetzte ihm einen Stoß. »Er ist nicht zum ersten Mal gewalttätig geworden, und es gibt fünfzehn
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