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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen
Autoren: Luanne Rice
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griff zum Telefonhörer und wünschte sich, Regis hätte sich nicht ausgerechnet diesen Augenblick ausgesucht, um aufzuwachen.
    »Wen rufst du an?«, fragte Regis.
    »Geh zu deiner Schwester.« Honor deckte den Hörer mit der Hand ab. »Sofort, Regis.«
    Während ihre Mutter die Nummer der Polizei wählte, kehrte Regis erschrocken in das Schlafzimmer zurück, das sie mit ihren Schwestern teilte. Honor streckte die Hand aus und zog gerade die Tür zu, als eine irische Stimme am anderen Ende der Leitung sich meldete: »Gardai.«
    »Hier spricht Honor Sullivan. Mein Mann bat mich, Sie anzurufen. Er hat eine Skulptur in Ballincastle gebaut, auf dem Old Head, und er sagte, sie sei vor einiger Zeit mutwillig beschädigt worden, von einem Mann namens Gregory White. Wir haben gerade jemanden auf dem Küstenpfad draußen vor unserem Haus vorbeigehen sehen – John glaubt, es sei dieser Mann gewesen, er hält sich in diesem Moment hier auf, und er bittet Sie, Hilfe zu schicken.«
    »Wie war der Name gleich wieder?«
    »Der Name meines Mannes lautet John Sullivan, und der Mann heißt Gregory White. Wir sind in Ballincastle.« Honor schlich zum Fenster, ihr Herz begann zu hämmern. Bei dem strömenden Regen konnte sie kaum zehn Meter weit sehen. Die Fußstapfen schienen tiefer und näher beieinander zu sein. Sie blickte angestrengt über die Anhöhe, konnte aber weder Johns Skulptur noch das Kreuz erkennen.
    »Gregory White – ist das derselbe Mann, dessen Leben Ihr Mann bedroht hat? Wir wurden schon einmal eingeschaltet, um die beiden Streithähne zu trennen.«
    »Bitte, kommen Sie einfach her!«, schrie sie.
    Dann, kurz bevor die Verbindung abbrach, hörte sie, wie die Stimme am anderen Ende der Leitung in sich hineinlachte und meinte: »Dieses monströse Ding …« Als würde sich der Polizist mit jemandem über Johns Skulptur unterhalten.
    »Das
was
?«, fragte Honor.
    Doch die Leitung war tot. Sie zog den Bademantel fester um sich. Johns Arbeiten lösten widersprüchliche Reaktionen aus: entweder weckten sie Begeisterung oder Abscheu.
    Im Gegensatz zu ihren Gemälden und Zeichnungen – ihre Bilder von der ländlichen Idylle und den Küstenstrichen rund um Black Hall wirkten still und beschaulich, waren allseits beliebt … und ungefährlich. Doch sie hatte den Weg zu ihrer inneren Kraft und Inspiration aus den Augen verloren, obwohl ihre Studenten in der Star-of-the-Sea-Akademie, wo sie Kunstunterricht erteilte, nichts davon ahnten.
    Als sie nun hörte, wie die Polizei Johns Arbeit herabwürdigte, spürte sie, wie ihr Blut in Wallung geriet. Sollte sie ihm nachlaufen und versuchen, ihm zu helfen? Unschlüssig lehnte sie sich gegen die Fensterscheibe. Was war, wenn er sie brauchte? Wer war dieser Greg White, und warum wollte er Johns Werk zerstören? Bei dem Gedanken, dass sich ihr Mann in Gefahr befinden könnte, bekam sie eine Gänsehaut. Ihr war mit einem Mal mulmig zumute. Laut Aussage des Polizisten hatte John das Leben dieses Mannes bedroht. Was war das für ein Streit gewesen, der zwischen den beiden in dieser Bar entbrannt war?
    Oh Gott, sie war völlig am Ende. Genau genommen war sie das schon geraume Zeit. Diese Reise nach Irland war wie eine Wanderung über Stacheldraht gewesen. Ihr ganzer Brustkorb schmerzte; ihr Herz war so schwer, als drohte es zu versteinern. Sie hatte drei Töchter, die noch minderjährig waren, und lebte in ständiger Angst, sie könnten ihren Vater verlieren. Und schlimmer noch: Sie hatte das Gefühl, als sei das Band zwischen John und ihr zerrissen. Es gab sogar Augenblicke, in denen sie glaubte, das Leben mit ihm keinen Tag länger ertragen zu können.
    Regis hatte sie unmittelbar vor ihrer Reise nach Irland weinen gesehen. Sie war im Atelier aufgetaucht, als sie sich gerade über einige von Johns Fotografien beugte – silberfarbene Aufnahmen von den Eishöhlen, die er in jungen Jahren geformt hatte, nachdem ein Blizzard die Küste Connecticuts unter einer Schneedecke begraben hatte. John hatte gearbeitet, bis er Frostbeulen bekam. Am Ende musste er in der Notaufnahme des Krankenhauses verarztet werden. An jenem Tag im Atelier hatte Honor um das junge Paar getrauert, das sie einst gewesen waren, um den Ehemann, der sich in derart extreme Situationen trieb, der nicht aufhören konnte, sich selbst unter Druck zu setzen. Regis hatte ihre Tränen gesehen und mit erstickter Stimme geflüstert: »Werdet ihr euch scheiden lassen, Daddy und du?«
    »Mommy?«, rief Agnes nun aus dem
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