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Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
Autoren: Lena Klassen
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Das Auge

    Mit den verwitterten roten Mauern und den grellen Graffiti-Schnörkeln wirkte das kleine Bahnhofsgebäude genauso verloren und vergessen wie ich. Es herrschte beinahe Friedhofsruhe. Die breite Glastür schnappte jedes Mal mit einem hörbaren Klacken zu, sobald jemand hindurchgegangen war. Ein Zug brauste ohne anzuhalten vorüber. Zwei alte Damen erkundigten sich in ungenierter Lautstärke gegenseitig nach ihren Gebrechen. Ansonsten: Stille.
    Ich war im Nirgendwo angekommen. Seit einer halben Stunde stand ich mir nun schon die Beine in den Bauch, und Onkel Vincent war immer noch nicht aufgetaucht. Mittlerweile hatte ich die elf Tauben, die zwischen drei Laternenpfählen und einer Regenrinne hin und her flogen, mit Namen versehen. Ich hatte mein Skizzenbuch um zwei Taubenkarikaturen bereichert, denen ich die Namen „Hilde“ und „Macho“ verpasste. Keine Ahnung, wie oft ich den Block schon in meiner Umhängetasche versenkt und wieder rausgeholt hatte. Es war mir gelungen, die Gänseblümchen zwischen den Pflastersteinen nicht mit den Rädern meines Koffers plattzufahren, indem ich einen gekonnten Slalom hinlegte. Und ich hatte einen Mordshunger!
    Dabei war der Zug sogar relativ pünktlich gewesen, nur zwanzig Minuten Verspätung. Eigentlich hätte mein Onkel schon längst auf mich warten müssen statt ich auf ihn. „Sei bloß nett zu Onkel Vincent“, hatte meine Mutter mir eingeschärft, damit ich ja nicht meine schlechte Laune an dem ihrer Meinung nach wichtigsten, weil reichsten Verwandten ausließ. Sie wusste natürlich, dass ich überhaupt keine Lust hatte, die Sommerferien in diesem Kaff auf dem Land zu verbringen. Vielleicht hätte sie lieber ihren Schwager anrufen sollen, um ihm das Versprechen abzunehmen, nett zu mir zu sein.
    Immer ungeduldiger zog ich meinen Trolley über das holprige Kopfsteinpflaster vor dem Bahnhof und überlegte, ob ich in das einzige Taxi steigen sollte, das an der Bushaltestelle stand und dessen Fahrer mit einer beneidenswerten Geduld auf den nächsten Fahrgast wartete. Was für ein Auto Onkel Vincent wohl fahren würde? Einen Rolls Royce mit Chauffeur? Einen Porsche? Ich wusste über ihn, dass er in Geld schwamm, das war schon alles. Wir waren auch nicht gerade arm, aber wenn meine Mutter von Vincent Riebeck sprach, dann stets in einem ehrfürchtigen Tonfall, während mein Vater die Brauen zusammenzog und sein berühmtes düsteres Gesicht aufsetzte. Ich wurde dann ganz kleinlaut und still, aber bei meiner Mutter funktionierte dieser Trick nicht. „Alicia“, sagte sie gerne zu mir, „irgendwann erbst du dieses riesige Vermögen. Also streng dich an.“ Bei den Hausaufgaben. Bei der nächsten Arbeit. Beim Tennis. Beim Klavierunterricht. Bei was auch immer. Streng dich an, denn du hast einen Erbonkel.
    Aus diesem Grund hasste ich es, einen Erbonkel zu haben. Dass ich ihn nicht persönlich kannte, machte es nicht besser. Ihn schien seine Nichte auch nicht sonderlich zu interessieren. Zu meinem zehnten Geburtstag hatte er mir einmal ein Geschenk geschickt. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war. Post von meinem Erbonkel, für den ich mich doch gerade erst im Mathetest übertroffen hatte! Dem meine Mutter hinter dem Rücken meines Vaters ein Foto von meiner Fahrradprüfung geschickt hatte!
    Es war ein richtig teures Geschenk, ein todschickes Tennis-Dress. Nur dass ich gerade wieder aus dem Verein ausgetreten war, weil ich Tennis hasste. Ich stand da also mit diesem blöden Geschenk und heulte, meine Eltern schrien erst mich an und dann einander, und mein ganzer Geburtstag war verdorben.
    „Alicia?“
    Ich schrak hoch. „Onkel Vincent?“
    Nein, das war garantiert nicht mein Onkel. Aus dem einsamen Taxi sprang gerade ein kleiner, schnauzbärtiger Mann und rannte auf mich zu. „Bist du Alicia Vanderen?“
    Ich nickte überrascht.
    „Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, ob du es bist! Herr Riebeck hat mich geschickt, um dich abzuholen, aber er hat dich ganz anders beschrieben. Ist das dein Koffer? Na los, dann mal rein ins Auto.“
    „Was hat er denn über mich gesagt?“, wollte ich wissen, während ich mich anschnallte.
    Der Taxifahrer warf mir einen amüsierten Blick zu. Er sah südländisch aus, dunkelhaarig und mit gebräunter Haut, als käme er geradewegs vom Strand. In Gedanken nannte ich ihn Tony.
    „Lange, blonde Haare. Fünfzehn Jahre alt.“
    „Hey, ich bin sechzehn! Und schon seit über einem Jahr nicht mehr blond.“ Ich fuhr mir durch meine
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