Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
Autoren: Lena Klassen
Vom Netzwerk:
jetzt wirst du jedenfalls erleben, wie es sich mit einem Skandal lebt. Und wie man ganz schnell abstürzen kann. Ich. Und ihr alle mit mir.“
    Was würde auf uns zukommen? Thomas war bereits verhaftet worden. Würde auch mein Vater im Gefängnis landen? Ich wollte es gar nicht wissen. Ich wollte nicht darüber nachdenken, und doch würde ich diese Last niemals abschütteln können. Nie.
    „Ich komme nicht mit euch zurück“, sagte ich. „Ich bleibe bei Onkel Vincent. Ich werde hier zu Schule gehen. Zu Hause habe ich außer Tatjana sowieso keine Freunde.“
    „Das kannst du nicht. Du bist erst sechzehn. Ich verbiete es!“
    „Wie du meinst“, sagte ich kühl. „Dann warte ich eben, bis ich achtzehn bin.“
    „Aber … aber warum denn?“ Er verstand es nicht. „Das wirkliche Verbrechen haben doch andere begangen.“
    Vielleicht würde ich irgendwann verzeihen können. Vielleicht würde ich irgendwann gnädiger sein als heute. Vielleicht.
    „Du hast Enrico getötet“, sagte ich. „Wenn du Alarm geschlagen hättest, als du Ricardo gefunden hast, hätte man ihn noch rechtzeitig entdeckt.“
    Jedes meiner Worte traf ihn wie ein Schlag, unter dem er zusammenzuckte.
    „Alicia“, sagte er leise. „Vielleicht ist das so. Vielleicht war er aber auch schon tot. Wir werden das niemals erfahren. Lass mich daran glauben, dass er schon tot war, dass ich nichts hätte ändern können.“
    Enrico hatte versucht, seinem Bruder in den Luftschacht hinein zu folgen, und war in die Dunkelheit zurückgestürzt. Vielleicht war es wirklich schnell gegangen. Vielleicht hatte mein Vater recht und er war nicht so schuldig geworden, wie ich annahm.
    Stunden. Vielleicht ein Tag. Vielleicht zwei. Endlose Stunden, allein. Nein, ich musste aufhören, mir das vorzustellen.
    „Man kann das nicht wissen“, sagte er.
    Vielleicht war die dunkle Stunde, an die Rico sich erinnerte, kaum länger als ein Herzschlag gewesen. Die Finsternis und die tröstende Gegenwart der kleinen Schmetterlinge in seiner Hand.
    Vielleicht.

    Nach der Beerdigung entkam ich irgendwie meiner Mutter und ihren schrillen Fragen und ging in den Garten. Wie still es hier war, wie einsam. Die Vögel sangen um ihr Leben, aber in mir war es still.
    Ich rief ihn nicht laut. Ganz leise fragte ich: „Rico? Bist du noch da? Rico?“
    Wie immer suchte ich ihn zuerst am Swimmingpool. Als ich ihn dort nicht fand, schlenderte ich zum Teich. Ich setzte mich auf den Baumstamm und wartete auf die Dämmerung. Ein kühler Wind wehte, kleine Wellen liefen über die Wasseroberfläche und schaukelten die Seerosen. Eine Libelle schwirrte davon.
    Er war nicht hier.
    Unruhig stand ich wieder auf und wanderte zwischen den Bäumen umher. Ich wartete darauf, jeden Moment einen Schatten zwischen den Sträuchern verschwinden zu sehen. Eine schlanke Gestalt in einem dunklen Anzug.
    „Rico?“
    Hatte ich es nicht geahnt? Die Gerechtigkeit würde Konsequenzen haben - auch für Rico. Und doch konnte ich nicht anders, als ihn zu suchen. Wir hatten uns nicht verabschiedet.
    Auf dem Glashaus flirrte das Sonnenlicht. Ein zersprungener Palast inmitten von schwelenden Brandruinen und Asche. Ich trat an die Scheibe, und aus dem Inneren des Rosendickichts kam mir ein Schatten entgegen, den ich zuerst für eine Spiegelung meiner selbst hielt. Ein Junge mit schwarzen Haaren und dunklen Augen, ein Kind mit Angelinas Augen und einem scheuen Lächeln. Er kam von der anderen Seite des Glases auf mich zu. Ich streckte die Hand aus und legte sie an die Scheibe, und er tat dasselbe, auf seiner Seite.
    Wir sprachen nicht. Ich näherte mein Gesicht dem Glas. Und so küssten wir uns, die durchsichtige Trennwand zwischen uns. Rico seufzte und lehnte die Stirn gegen die gesprungene Scheibe.
    Ich wollte ihn umarmen und festhalten. Mehr als alles andere auf der Welt sehnte ich mich danach, bei ihm zu sein. Unsere Hände wollten sich berühren, unsere Finger strebten danach, sich zu verschränken. Wir gingen an der Glaswand entlang, fast wie Hand in Hand, auf die zerbrochene Eingangstür zu. Gleich würden wir uns gegenüberstehen, gleich konnte ich ihn in die Arme schließen … Es war unmöglich, aber ein Teil von mir wollte es glauben. Ein Teil von mir glaubte daran, dass wir so sehr zusammengehörten, dass nichts uns trennen konnte.
    Die Kante des Glases war schneidend scharf. Rico stand so deutlich vor mir, so klar zu sehen … nein, ich hätte nicht einmal meine neue Brille gebraucht, um ihn zu sehen. Den Jungen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher