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Das weiße Grab

Das weiße Grab

Titel: Das weiße Grab
Autoren: Lotte Hammer , Søren Hammer
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    Prolog
    A lles hat seinen Preis.
    Und vielleicht war es jetzt an der Zeit, den Preis für den Raubbau an der Natur zu bezahlen, der über die Jahrhunderte in der Diskobucht auf Grönland stattgefunden hatte – auch wenn dieser Preis sicher nur als eine kleine Anzahlung zu verstehen war, bevor die wirklich großen Raten fällig wurden, dachte die Kanzlerin, als sie über den Fjord blickte.
    Die dänische Umweltministerin und der Journalist, der sie interviewte, folgten unwillkürlich ihrem Blick. Die Aussicht war grandios, Eisberge aller Größen trieben auf dem türkisblauen Wasser, und dahinter thronte der Gletscher wie eine zerklüftete weiße Mauer, die die Sommersonne spiegelte und ihre Betrachter zwang, die Augen zusammenzukneifen. Hin und wieder kalbte der Eisberg und gebar mit einem tiefen Grummeln, das die klare Luft der Bucht zerschnitt, einen neuen Eisberg.
    Nach einer Weile räusperte der Journalist sich. Seine letzte Frage war unbeantwortet geblieben, und er versuchte diskret, das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Die Kanzlerin reagierte aber auch dieses Mal nicht, so dass er die Frage schließlich, etwas abgeändert und auf Englisch, an die dänische Ministerin stellte.
    »Warum muss man bis nach Grönland reisen, um die globale Erwärmung zu verstehen? Was können die Entscheidungsträger der Welt hier lernen, was sie nicht auch bei sich zu Hause lernen können?«
    Die Ministerin lächelte entgegenkommend, während sie nachdachte. Es war klar, dass mit den
Entscheidungsträgern der Welt
nicht sie, sondern ausschließlich ihr Gast gemeint war, was ihr einen kleinen Stich versetzte. Dabei war die Frage nicht neu für sie. Nachdem sie vor ein paar Monaten mit ein paar amerikanischen Senatoren nach Grönland gereist war, hatte ihr die dänische Opposition den Vorwurf gemacht, Klimatourismus zu betreiben, und in gewisser Weise entsprach das auch der Wahrheit.
    Die deutsche Kanzlerin brauchte nicht 4000 Kilometer von Berlin nach Ilulissat zu reisen, um zu erkennen, dass das Polareis schmolz. Das sah man schon, wenn man die Satellitenfotos des Nordpols von heute mit denen von vor zehn Jahren verglich. Oder die des Südpols, das war egal. Entscheidend war nur die Frage, was man tun konnte, um den Prozess umzukehren – oder eher, die dadurch entstehenden Schäden zu begrenzen –, doch darüber gaben weder der Gletscher noch die Satelliten Auskunft.
    Die Kanzlerin drehte den Kopf und sah sie verschmitzt an. Anscheinend war sie ebenso gespannt auf die Antwort wie der Journalist.
    Plötzlich kam ihr der paranoide Gedanke, das Ganze könne ein abgekartetes Spiel der beiden Deutschen sein. Ihr wurde warm, und sie zog ihre Windjacke aus, um das Gefühl zu überspielen, an einem Prüfungstisch zu sitzen. Abgesehen davon, dass ihr Gast 83 Millionen Deutsche repräsentierte, hatte diese Frau schließlich auch noch einen Doktortitel in Quantenchemie.
    Der Reißverschluss verklemmte sich, was sie dankbar nutzte, um ihre Antwort noch ein paar Sekunden zu überdenken. Dann sagte sie ehrlich: »Nichts.«
    »Und warum sind wir dann hier?«
    Einen Moment lang erwog sie, über die viertausend grönländischen Jäger zu sprechen, denen der Temperaturanstieg, der hier doppelt so schnell vor sich ging wie im Rest der Welt, ihre uralte Lebensgrundlage geraubt hatte. Aber das wäre ein Fehler. Die anberaumte Klimakonferenz war global, so dass dieses Argument ein falsches Signal geben würde.
    Stattdessen sagte sie: »Weil Politiker auch Menschen sind, und diese Szenerie hier vergisst niemand so schnell.«
    Der Journalist schien ihr zuzustimmen, und auch das breite Lächeln der Kanzlerin zeigte, dass sie mit ihrer Antwort zufrieden war. Als sie zu den wartenden Helikoptern gingen, dachte die Ministerin, dass die veränderte Stimmung ihr vielleicht die Möglichkeit gab, mit der Kanzlerin auch die drängenden politischen Fragen zu erörtern. Die deutsche Regierungschefin wäre eine wichtige Stütze bei der Klimakonferenz in zwei Jahren in Kopenhagen. Bis jetzt hatte die Deutsche sich aber so sehr für die Landschaft und die ungewohnte Umgebung interessiert, dass das Thema Politik kaum zur Sprache gekommen war. Am meisten hatte die Kanzlerin mit einem Glaziologen aus ihrer eigenen Delegation gesprochen, und der dänische Klimaminister hatte kaum Gelegenheit gehabt, zu Wort zu kommen.
    Die Hoffnung auf politische Diskussionen erfüllte sich aber nicht, denn auch im Helikopter sprach die Kanzlerin ausschließlich mit dem
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