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Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
Autoren: Lena Klassen
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mich mit dem Fahrrad durch den Wald gurken. Meine Mutter würde einen Herzanfall bekommen, aber Onkel Vincent wirkte eigentlich recht locker und gar nicht so nervös. Nach einem Fahrrad musste ich ihn noch fragen. Hauptsache, ich musste nicht mit dem Taxi fahren oder, noch schlimmer, ein Chauffeur kutschierte mich in einer Limousine herum.
    „Wenn dir der Pool reicht, kannst du den benutzen.“
    Dieser Garten musste noch viel größer sein, als ich gedacht hatte.
    „Dein Zimmer erkennst du daran, dass ich deinen Koffer vor die Tür gestellt habe“, sagte er noch. „Falls dir eins der anderen Gästezimmer besser gefällt, ist das auch kein Thema. Sag es Sabine, und die wird sich darum kümmern.“
    Mir fielen seine großen, dynamischen Schritte auf, als er davonmarschierte. Komisch eigentlich, dass er der ältere Bruder war, er kam mir wesentlich jünger vor als mein Vater. Ein sportlicher, dynamischer Geschäftsmann, Herr eines Feinkost-Imperiums. Grund genug, immer fröhlich zu sein, hatte er ja.

    In meinem kleinen Reich war alles perfekt. Ein großer Fernseher stand mir zur Verfügung und ein Computer. Waren hier alle Gästezimmer so ausgestattet, oder fürchtete Onkel Vincent, ich könnte mich langweilen? Es war gemütlich, und es gab absolut nichts in Rosa. Knorrige Holzbalken ragten aus der Decke, das Bett stand unter der Dachschräge. Auf der anderen Seite lud ein kleines Sofa in leuchtendem Rot zum Herumlümmeln ein. Ein üppiger Strauß weißer Rosen auf dem Couchtisch verlieh dem Raum eine wohnliche Note. Der Fußboden war aus Holz, so schimmernd glatt poliert, dass man hier bestimmt super tanzen konnte.
    Das Einzige, was mich störte, waren die tierischen Bewohner. Kleine graue Motten wirbelten davon, als mein Blick sie streifte. Ein größerer Falter saß auf der Fensterscheibe und wirkte gegen das Licht wie ein schwarzer Scherenschnitt, doch die meisten versteckten sich hastig. Während ich mit meiner Mutter telefonierte und ihr versicherte, dass es mir gut ging und ich mich noch nicht bis auf die Knochen blamiert hatte, wurde ich ständig davon abgelenkt, dass sich irgendetwas gerade außerhalb meines Blickfelds bewegte.
    Anschließend legte ich mich ins Bett und las eine Weile - ein ziemlich albernes Buch, bei dem die Heldin sich absolut nicht zwischen zwei Typen entscheiden konnte, obwohl doch von Anfang an klar war, wer zu ihr passte -, doch sobald ich zwischendurch das Buch sinken ließ, schwebte oder krabbelte irgendetwas davon, sodass ich mich kaum konzentrieren konnte. Es war, als wäre ich von einem Heer von Detektiven umgeben, die sich an mich heranschlichen und erstarrten, wenn ich auf sie aufmerksam wurde. Fehlte nur noch, dass sie schnell so taten, als würden sie Zeitung lesen. Einmal sprang ich sogar auf, die Hand erhoben in Ermangelung einer Fliegenklatsche, aber nichts rührte sich, niemand raschelte oder flatterte davon.
    „Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ich mich davon täuschen lasse?“ Ich erwartete keine Antwort und erhielt auch keine. Zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich darüber nach, dass ein paar mehr Spinnen im Zimmer ganz praktisch wären.
    Als ich mich schließlich zum Schlafen ins Kissen kuschelte und nach oben schaute, traf mich fast der Schlag. Direkt über mir, auf der hell gestrichenen Fläche zwischen den dunklen Holzbalken, starrten mich zwei riesige runde Augen an. Ich unterdrückte einen Schrei, denn gleich darauf wurde mir klar, dass ich auf einen besonders fetten Nachtfalter schaute, der grell umrandete Kreise auf seinen Flügeln trug. Wenn mein Vater im Nebenzimmer geschlafen hätte, hätte ich ihn gerufen, und er wäre mit einem Wasserglas und einer Postkarte bewaffnet herbeigeeilt, um alle lästigen Insekten einzufangen und nach draußen zu tragen. Er brachte es nicht fertig, auch nur das kleinste Lebewesen zu töten. Aber mein Vater war nicht hier, und ich hatte keine Ahnung, wo in diesem riesigen Haus Onkel Vincent schlief. Doch ihn hätte ich sowieso nicht gerufen. Das fehlte noch, dass ich mich an meinem ersten Tag zum Affen machte, nur wegen eines auffällig gefärbten Falters.
    Er sieht dich nicht, sagte ich zu mir. Es ist nur das Muster. Trotzdem blieb das komische Gefühl, beobachtet und bewertet zu werden, so wie schon heute Nachmittag von Onkel Vincent, als das Taxi mich abgeliefert hatte. Lange starrten wir uns an, der Nachtfalter und ich, und wenn wir das Spiel gespielt hätten, bei dem man sich anschaut und derjenige verliert, der zuerst
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