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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen
Autoren: Luanne Rice
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abgelehnt hast. Wie hätte ich mit der Jungfrau Maria konkurrieren können?«
    Bernie sah das Kreuz an. Sie hatte sich der Muttergottes immer besonders verbunden gefühlt, weil sie wusste, wie es war, einen Sohn zu verlieren. Doch sie hatte ihren Sohn nicht an den Tod verloren – er lebte noch. Er lebte sein eigenes Leben, vielleicht in Irland. Die Nonnen in Dublin mussten es wissen. Dort waren die Unterlagen.
    Tom trat näher zur Wand mit den beiden Inschriften. Bernie lief ein Schauder über den Rücken, als sie sah, wie er die Worte mit dem Finger nachzeichnete.
    »Das Hohelied«, sagte Tom. »Du hattest recht, es ist ein Liebeslied, wie du schon an jenem Tag sagtest, als ich dich bat, dir die erste Inschrift anzuschauen.«
    »Eine Liebesgeschichte«, verbesserte sie ihn.
    »Er war es nicht gewesen. Behauptet der Junge zumindest«, sagte Tom, versunken in die Betrachtung der Worte an der Wand.
    »Stimmt.«
    »Woher willst du das wissen?«
    Tom, ganz Steinmetz, hob einen der Steine vom Boden auf, die am Abend vor zwei Tagen heruntergefallen waren – als sie versucht hatte, die Inschrift zu vertiefen.
    »Weil ich es war.«
    Tom drehte sich langsam um, den Stein in der Hand. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er sah Bernie entgeistert an.
    »Mein Urgroßvater hat die Mauern hier errichtet. Ich habe sein Werkzeug aufgehoben, im Schuppen hinter …«
    »Dem Konvent. Ich weiß.«
    »Als Kind habe ich ihm oft zugeschaut, wenn er arbeitete. Ich fand es bewundernswert, wie er seine ureigene Handschrift auf den Steinen und Felsen und dem Land hinterließ. Manchmal kam es mir wie ein Gebet vor, das sichtbar war.«
    »Ein Gebet –«
    Bernie nickte. »Es bedarf großer Hingabe, mit Steinen und Felsen zu arbeiten. Es bedarf eines tiefen Glaubens, um davon überzeugt zu sein, dass man einen Unterschied bewirken kann. Auch wenn dieser Unterschied kaum merklich ist, weil es um Dinge geht, die unverrückbar und undurchdringlich scheinen.«
    »Aber warum hast du das gemacht, Bernie? Warum ausgerechnet hier?«
    »Ich habe diese Grotte Tag für Tag besucht, schon in jungen Jahren. Hier ist mir die Muttergottes erschienen; ich hatte gehofft, dass sie noch einmal zu mir kommt. Um mir den Weg zu weisen. Ich wollte von ihr wissen, was ich tun soll.«
    »Deshalb musstest du ihr eine Liebesgeschichte schreiben?«
    »Sie kennt meine Liebesgeschichte«, entgegnete sie.
    »Was für einen Rat hat sie dir gegeben?«
    Bernie schloss die Augen. Sie hatte das Gefühl, als würde es in dem dunklen, geschlossenen Raum wärmer, stiller. Sie schwankte und musste die Hand ausstrecken, um die Mauern mit den Fingerspitzen zu berühren und Halt zu finden. Tom war bei ihr, neben ihr, bereit, sie zu stützen. Doch das musste er nicht.
    »Bernie?« Er war ihr so nahe, dass sie seinen Atem auf ihrer Stirn spürte.
    Sie öffnete die Augen und sah ihn an, als wäre es das erste Mal. Tom sah noch genauso aus wie früher, bei ihrer ersten Begegnung. Er war noch genauso groß. Und seine Augen genauso blau. Er sah aus, als sei alles, was sein Leben lebenswert machte, hier in Black Hall und drüben in Dublin.
    »Was für einen Rat hat sie dir gegeben?«, fragte Tom abermals.
    Und Bernie sagte es ihm.

[home]
    29. Kapitel
    H onors Nerven lagen blank, während sie wartete. Die Ebbe zeigte sich wieder einmal von ihrer ausgeprägtesten Seite; heute Nacht würde Vollmond sein. Sie sammelte Mondsteine, um ein wenig Ruhe zu finden. Als die Flut einsetzte, zog sie sich in den Steinkreis zurück. John hatte die größten Bruchstücke für den Außenring verwendet – sie schützten die inneren Kreise vor Wind und Wellen. Doch das Labyrinth war zerbrechlich, schon der kleinste Windhauch konnte die kleineren Steine unter Bergen von Flugsand begraben.
    Am Außenrand beginnend, setzte sie einen Schritt vor den anderen. Einmal im Kreis herum, dann nach links in den nächsten Ring und weiter, immer in die gleiche Richtung. Es tat gut, in der Sonne zu sein, in der frischen Meeresluft; sie spürte Johns Anwesenheit, als sie durch das Labyrinth schritt, tiefer und tiefer vordrang, der Mitte entgegen.
    Als sie das Zentrum erreicht hatte, setzte sie sich nieder. Ihr Herz klopfte. Sie saß reglos da, den Blick nach vorne gerichtet. Der Sund war heute Abend spiegelglatt; es hatte keine Unwetter auf dem Meer gegeben, die das Wasser aufwühlten. Der Wind war kaum mehr als ein Raunen, rief kaum ein Kräuseln an der Oberfläche hervor.
    »Was machst du da drinnen?«
    Sie hörte
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