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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam
Autoren: Rolf Bauerdick
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trug ich Iljas Bett nach draußen auf die Veranda vor der Schankstube, dorthin, wo Großvater am 6. November 1957 mit einem Blechtrichter am Ohr in das Weltall gehorcht hatte, um das Piepen des Sputnik einzufangen. Antonia und Kathalina holten Decken und Federkissen herbei und betteten Ilja unter dem kalten und sternenklaren Nachthimmel. Wir alle saßen um Großvater herum. Ich und meine Buba, Fritz Hofmann und Schwiegertochter Kathalina, Antonia und Dimitru. Er hielt Iljas Hand. Ich glaube, es war das erste Mal seit dem Unglück an der Tirnava, dass die Kälte Dimitru nicht zittern ließ.
    Ich ging in die Schankstube, schloss die alte Registrierkasse auf und holte die Holzkiste hervor, die seit ewiger Zeit nicht mehr geöffnet worden war. Dann reichte ich Fritz und Dimitru eine Zigarre und brannte für mich und meinen Großvater die letzten Kubanischen an.
    »Amerika«, seufzte Ilja. Über den Bergen ging der Mond auf. Ilja drückte Dimitrus Hand und fragte leise: »Erinnerst du dich noch an die Nächte, als wir auf dem Mondberg durch unser Teleskop schauten?«
    »Nur erinnern? Ilja, mein Freund! Es ist mir, als sei es gestern gewesen.«
    »Gut. Sehr gut. Und Dimitru? Hast du damals wirklich die Königin des Himmels gesehen? Die Frau mit dem Strahlenkranz?«
    »Absolut! Ich sah sie. Zwar nur kurz. Aber ich sah sie genau. Heller als tausend Sonnen. So wie einst der Evangelist Johannes sie gesehen hatte. Genau so!«
    »Und? War sie schön?«
    »Schön? Sie war schöner als schön. Glaub mir, sie war wunderbar. Magnifica maxima.«
    »Ich hätte sie auch so gern gesehen. Nicht nur weiße Punkte auf schwarzem Papier.« Ilja atmete schwer. Die Kubanische glitt ihm aus der Hand. Buba rückte zu ihm heran und legte ihm ihre Hände über die blinden Augen. Im Licht des Mondes sahen wir, dass Großvater lächelte.
    »Du siehst sie, nicht wahr, mein Freund?«
    Ilja nickte schwach. »Ja«, hauchte er. »Dimitru, ich sehe sie. Und ich sehe no ch mehr. Sie ist nicht allein.«
    »Wer ist sonst noch da?«
    »Viele sind da. Sehr viele.«
    »Erkennst du jemanden?«
    »Ja, gewiss doch. Ich sehe Nicolai, meinen Sohn. Laszlo, deinen Vater, Papa Baptiste. Und meine liebe Agneta. Sie winkt mir. Und ich sehe viele, viele andere Frauen.«
    »Und die Königin? Was macht sie? Wie sieht sie aus?«
    »Sie lacht. Auf ihrem Schoß sitzt ein Kind. Ein Junge. Oder ein Mädchen. Ich kann es nicht erkennen. Das Kind ist blond. Genau wie seine Mutter. Ihre Haare wehen im Wind. Sie duftet nach Rose. Und sie hat ein schönes Kleid an. Mit lauter Sonnenblumen. Ich kenne sie. Ich kenne sie, aber ich weiß nicht, woher.«
    »Das ist sie! Genau so habe ich sie damals auch gesehen. Im Meer der Heiterkeit. Es geht ihr also gut.«
    »Ja, Dimitru, das tut es.«
    Der Zigan küsste seinen Freund auf die Stirn und flüsterte ihm zu: »Ilja, geh schon mal vor. Ich muss noch eine letzte Sache erledigen, dann komme ich nach.«
    Am Morgen des 29. Dezember bat mich Dimitru, das rote Kanapee, das Antonius Wachenwerther vor zwei Jahrzehnten in den Keller der Pfarrei hatte packen lassen, wieder in die Bücherei zu tragen sowie die Türen und Fenster des Pfarrhauses aufzureißen.
    Dann betrat Dimitru zum letzten Mal jene Bibliothek, in der er einst seine Marianischen Studien betrieben hatte. Er legte sich auf seine Chaiselongue und ließ seine Nichte Buba, Fritz Hofmann und mich zu sich bitten.
    »Ich habe noch ein letztes Lied zu singen. Danach begrabt mich und die Gebeine meines Vaters neben meinem Freund Ilja. Und sorgt dafür, dass auch Papa Baptiste ein schönes Plätzchen bekommt. Und bitte, in unserer Mitte ein Grab für die Lehrerin Angela Barbulescu. Mit einem weißen Kreuz. Ihr werdet einen guten Platz finden. Das weiß ich. Und nun setzt euch, denn ich möchte meine Schuld bekennen.
    Viele Nächte, sehr viele Nächte habe ich hier in dieser Bücherei verbracht. Ich habe studiert. Oh ja, viele Bücher habe ich gelesen. Aber nicht nur. Es gab Nächte, in denen war ich nicht allein. Der Mensch braucht Wärme. Und ich habe sie mir geholt, von einer Frau, die selber Wärme suchte. Und doch waren wir niemals Mann und Frau. Ich wollte mich nicht zu ihr bekennen, und Angela konnte sich nicht zu mir bekennen. Mein Engel, so habe ich sie genannt, doch das war eine Lüge. Da war nur Fleisch. Und nach der Lust diese leere Traurigkeit, die nach immer mehr Lust giert, um sich selbst nicht zu begegnen.«
    »Was! Du, du hattest ein heimliches Verhältnis mit Angela
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