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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam
Autoren: Rolf Bauerdick
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Deutsche Verlags-Anstalt
    Rolf Bauerdick
    Wie die Madonna auf den Mond kam
    Roman
    Prolog
    Dass die Visionen des Ilja Botev nicht der lichten Gabe des prophetischen Sehens entsprangen, sondern dem Wahn eines irrlichternden Verstandes, daran zweifelte in Baia Luna niemand. Am wenigsten ich, sein Enkel Pavel. In früher Jugend hatte ich die Einbildungen meines Großvaters noch als närrische Hirngespinste abgetan, eine Folge des Einflusses, den der Zigeuner Dimitru Gabor auf ihn ausübte, der sich um die Gesetze von Vernunft und Logik nicht sonderlich scherte. In späterer Zeit jedoch, als der Boden des gesunden Urteilsvermögens unter Großvaters Füßen dünner und zerbrechlicher wurde, hatte ich gehörigen Anteil daran, dass sich der Alte immer heilloser im Netz seiner Fantasmen verspann. Gewiss lag es nicht in meiner Absicht, dass Großvater sich zum Gespött der Leute machte, zum Idioten. Doch was war von einem Schankwirt zu halten, der mit einem Pferdefuhrwerk zu einer verschwiegenen Mission aufbrach? Um den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zu warnen. Vor dem Raketenforscher Wernher von Braun, vor einer dubiosen Vierten Macht und einem weltpolitischen Debakel gewaltigen Ausmaßes. Und das mit einem geheimen Dossier, einer lächerlichen Abhandlung über das Mysterium der leiblichen Himmelfahrt der Jesusmutter Maria. Handgeschrieben und dreifach eingenäht in das Futter einer Wolljoppe.
    Heute sehe ich meinen Großvater Ilja und seinen Zigeunerfreund Dimitru im milden Licht des Alters. Ich weiß um meine Schuld, und ich weiß, was ich den beiden verdanke, auch wenn die Erinnerung an sie in Baia Luna allmählich verblasst.
    In diesen Zeiten schaut man nach vorn. Wer innehält und zurückblickt, gilt als Verlierer. Es herrscht Demokratie. Kein Conducator trotzt mehr der Sonne, keine Partei fordert mehr blinde Gefolgschaft, und die staatliche Sekurität steckt aufsässige Untertanen nicht mehr in Kerkerhaft. Jedermann darf denken und glauben, wonach ihm der Sinn steht. Brisante Pamphlete, die einst heimlich außer Landes geschmuggelt wurden, verfasst heute niemand mehr. Die Grenzen zu den Nachbarn sind offen. Wir sind freie Bürger. Unsere Kinder wachsen auf in einem freien Land.
    Ich selbst wurde erst spät stolzer Vater zweier Töchter. Sie wurden in Freiheit gezeugt und geboren. Zwei Jahrzehnte sind seither verflogen, als hätte mich ein rasender Uhrzeiger durch die Zeit geschleudert. Früher, im Goldenen Zeitalter des Sozialismus, mangelte es an allem, Zeit jedoch besaßen wir im Überfluss. Mag sein, dass wir sie vertan, dass wir unsere Lebensjahre in öden Warteschleifen vergeudet haben. Heute ist Zeit ein rares, ein kostbares Gut. Mir rennt sie davon, während jüngere Generationen erinnerungslos durch ein immerwährendes Jetzt hetzen. Aber wenn Kinder nicht mehr wissen, wo sie herkommen, wie sollen sie da wissen, wo sie hinwollen?
    Wie die Dinge stehen, machen mich meine Töchter bald selber zum Großvater. In Erwartung künftiger Enkel drehe ich die Zeit zurück bis in meine Jugend in den fünfziger Jahren. Wenn ich nun für Kinder und Kindeskinder erzähle, wie die Madonna auf den Mond kam, so hallt in meiner Stimme das Echo meines Großvaters Ilja und des Zigeuners Dimitru nach. Die beiden Freunde träumten ihre Idee von Freiheit, und als kümmerlicher Glutrest inmitten kalter Asche sollte dieser Traum am Ende ihrer Tage seine Erfüllung finden. Aber das sollte ich erst nach jener historischen Weihnacht 1989 verstehen, an der die Goldene Epoche unseres Landes auf dem Müll der Geschichte landete.
    Es war der Tag, an dem der große Conducator, an den Händen gefesselt, »Judasbande« zischte, bevor er tränenüberströmt ein letztes Mal die Internationale sang und vor dem Standgericht die trotzigen Worte ausrief: »Es lebe die freie und sozialistische Republik.« Doch niemand applaudierte. Niemand schwenkte Fähnchen. Mit seiner Gattin schaffte er gerade noch den halben Weg bis zur Exekutionswand im Kasernenhof von Targoviste. Nicht einmal einen ordentlichen Schießbefehl war der Präsident den Revolutionsmilizen noch wert. Nur ein paar Feuerstöße. Ohne Kommando. Rattatata, Rattatata. Patronenhülsen flogen und tanzten auf kaltem Stein. Pulverrauch qualmte. Dann sackten dem Conducator, von Kugeln durchsiebt, die Knie weg. Vorbei das Goldene Zeitalter. Doch als das Genie der Karpaten, in den Liedern der Hofpoeten als süßester Kuss der Heimaterde besungen, leblos in seinem Blut lag, das
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