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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam
Autoren: Rolf Bauerdick
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nach oben verrutschte Jackett staatsmännisch zugeknöpft, geschah etwas Merkwürdiges.
    Den Soldaten des Hinrichtungskommandos fuhr der Schreck in die Glieder. Statt sich am Triumph des Sieges zu berauschen, überkam sie die Angst. Fassungslos über die eigene Tat, wagten die Milizen nicht, den gestürzten Diktator anzuschauen. Versteinert wendeten sie den Blick ab vom Titan der Titanen, der mit offenen Augen verständnislos in den Himmel stierte. Einige der jungen Kerle schielten verstohlen zu ihrem Kommandanten und bekreuzigten sich mit hastiger Geste hinter seinem Rücken. Dann griffen sie zur Schaufel und warfen dem Toten ein paar Schippen Erde über das Gesicht. Diese Augen! Niemand konnte sie ertragen. Außer die mageren Straßenköter, die warmes Blut rochen. Sie schlichen heran, mit lechzender Zunge und eingezogenem Schwanz, ohne Sinn für den letzten, ehrlichen Blick eines Mannes, der im Moment seines Sterbens mit entwaffnender Aufrichtigkeit verriet, dass er wirklich nicht verstanden hatte, was um Himmels willen da eigentlich am Tag der Weihnacht im Dezember 1989 geschehen war.
    Der Arzt Florin Pauker, der nach der Exekution auf dem Totenschein die Zeit vierzehn Uhr fünfundvierzig notierte, war bei dem selbst ernannten Revolutionsgericht zur Nationalen Rettung eher zufällig zugegen. Er war Neurologe und kein Gerichtsmediziner. Erst wenige Tage zuvor hatte ihn die Partei von seinen Aufgaben als Direktor der psychiatrischen Anstalt von Vadului entbunden und ihm eine neue Stelle als Militärarzt in Targoviste verschafft. Und weil er und seine Frau Dana dem Weihnachtsfest keinen Sinn abgewinnen konnten, hatte Doktor Pauker den Dienst mit einem Kollegen getauscht. Nun lag es an ihm, den klinischen Tod des Conducators und seiner Ehefrau amtsärztlich zu bestätigen.
    Florin Pauker beugte sich über den Leichnam, fühlte keinen Puls mehr und schaute dem Toten in die Augen. Möglicherweise einen Moment zu lange. Hastig kritzelte Pauker seinen Namen unter den Totenschein. Dann griff er zum Telefonhörer, ließ sich mit dem Hotel Athenee Palace in der Hauptstadt verbinden und zur Präsidentensuite durchstellen. Nach den drei Worten »Es ist vorbei« setzte er sich in seinen Dacia und fuhr in die Hauptstadt in die Strada Fortuna zurück zu seiner Frau. Danach erzählte Doktor Pauker, das Revolutionsgericht habe im Hof der Kaserne von Targoviste nicht das Böse an die Wand gestellt, sondern die Unschuld.
    Seine Ehefrau Dana und die einzige Tochter Irisetta erklärten, ihr Mann und Vater habe sich nach dieser Blutweihnacht, wie sie den Tag der Revolution nannten, sehr verändert. »Sein Wesen drehte sich um hundertachtzig Grad. Er sentimentalisierte. Das war nicht mehr der energische Arzt mit messerscharfem Intellekt, dem ich über dreißig Jahre die Treue gehalten habe«, sagte Dana zu einem französischen Journalisten, der später versuchte, den Sturz des Conducators zu rekonstruieren.
    »Schlimm war das«, meinte Tochter Irisetta. »Vater wurde ein rührseliger Weichling ohne Verstand. Ständig ging er nach draußen, nicht um die frische Luft der Freiheit zu genießen, sondern in der Absicht, überall traurige Bälger zu trösten.« Die Taschen habe er sich vollgestopft mit amerikanischen Kaugummis und bunten Kugellutschern, die dieser glatzköpfige Kommissar, den man neuerdings im Fernsehen gucken konnte, sich bei seinen Ermittlungen immer in den Mund schob. An jeder Straßenecke habe ihr Vater Kinder um sich geschart und freigiebig alle beschenkt. Nur habe er, sobald er irgendwo ein Kind mit großen Augen erblickte, jedes Mal bitterlich zu weinen begonnen. Sie selbst habe sich zuletzt überhaupt nicht mehr mit ihm unter die Leute getraut, so sehr habe sie sich für das ewige Geheule ihres Vaters geschämt.
    Um sein trübsinniges Gemüt zu erhellen, unternahm Doktor Pauker in den neunziger Jahren ungezählte Reisen. Es zog ihn zu den heiligen Stätten der Christenheit, besonders zu Orten, denen man nachsagte, hier sei zu früheren Zeiten die Gottesmutter Maria erschienen. Zuerst besuchte er die lokalen Wallfahrtsorte in Transmontanien, dann pilgerte er ins portugiesische Fatima und ins bosnische Medjugorje. Doch weder in dem französischen Pyrenäenstädtchen Lourdes noch bei der Schwarzen Madonna im polnischen Tschenstochau fand der Nervenarzt Linderung für seine schwermütige Seele.
    Für Dana war die Wesensverwandlung ihres frömmelnden Ehemannes kaum zu ertragen. Sie empfand es als Kränkung, als
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