Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam
Autoren: Rolf Bauerdick
Vom Netzwerk:
Liviu großspurig, und mir war klar, die nächsten Stunden würde ich mir die Hacken ablaufen.
    »Die Schwe-we-wer-kraft ist überw-w-wunden! Nun hält nichts den F-f-fortschritt auf. We-we-weltweit. Sp-sputnik p-piept, und Laika be-bellt«, stammelte Roman, wie immer, wenn seine Stimme mit seiner Erregung nicht Schritt hielt. »Jawohl. Fortschritt«, pflichtete Nico, der jüngste Brancusi, seinem stotternden Bruder bei. »Ein Hoch auf die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken! An ihrer Seite werden wir siegen! Wir erobern den Himmel! «
    »Trinkt euren Schnaps allein.« Die Sachsen Hermann Schuster und Karl Koch warfen ihre Mäntel über und gingen.
    Ärger lag in der Luft am 5. November 1957. Es war ein Dienstag und der Vorabend des fünfundfünfzigsten Geburtstags meines Großvaters Ilja. Ich war damals fünfzehn. Vormittags besuchte ich widerwillig die achte und letzte Klasse, nachmittags schlug ich die Zeit tot, am Abend und an den Sonntagen half ich meinem Großvater bei der Bewirtung der Gäste in der familieneigenen Schankbutike. Ich muss erwähnen, dass es sich dabei nicht um ein Wirtshaus im landläufigen Sinn handelte. Ilja, meine Mutter Kathalina und Tante Antonia betrieben einen Kaufladen, dessen Sortiment die Hausfrauen aus Baia Luna tagsüber mit dem Nötigsten versorgte. Abends diente der Laden den Männern als Trinkstube, indem wir das Lokal mit ein paar Tischen und Stühlen in eine Schenke verwandelten.
    Von dem Fortschrittsgetöne der Brancusis begriff ich nur, dass ein Hund am Himmel schwirrte, in einem piependen Sputnik, der ohne den Antrieb von Düsenturbinen auskam, ohne rotierende Propeller und mit Flugzeugen herkömmlicher Art nichts mehr gemein hatte. Allerdings um den Preis, niemals mehr zurück zur Erde zu können. Satelliten waren den Gesetzen der Schwerkraft entflohen, unterwegs zum ewigen Flug im All.
    Während sich die Männer in der Schenke über den Sinn und Zweck der neuen Himme1sflieger erhitzten, blieb mein Großvater Ilja gelassen: »Schwerelosigkeit, nicht schlecht. Respekt. Aber satt macht das Gepiepe den Russen nicht.«
    Dimitru Carolea Gabor erhob sich und ergriff das Wort.
    Einige Männer ließen verächtlich die Kinnlade fallen, sagte man dem Zigeuner doch nach, er habe seine Füße im Himmel und denke mit der Zunge. Dimitru schlug sich auf die Schwurbrust. Die rechte Faust ruhte auf seinem Herzen. Er stand wie ein Fels, schwor, die zirpende Flugapparatur sei das Werk des Obersten Genossen aller Genossen. Noch zu Lebzeiten habe IossifWissarionowitsch Stalin höchstpersönlich eine Armada von Sputniks in Auftrag gegeben. »Heimtückische Maschinen, als harmlose Blechkugeln getarnt, unterwegs in operativer Mission. Nun sogar mit Hund an Bord. Was der Kläffer zwischen den Sternen soll, ist mir nicht recht licht.
    Aber ich sage euch, diese Aluminiumspinnen strecken ihre Antennenfühler doch nicht zum Vergnügen in den Himmel. Der Sowjet hat etwas vor. Dieses Gepiepe, dieses kosmische Zikadengeschrei raubt friedfertigen Menschen nicht nur den Schlaf, es bringt sie auch um den Verstand. Und wisst ihr, was das heißt? Ohne Verstand verblödet der Mensch, und die Weltrevolution marschiert im Stechschritt voran. Und dann, ihr Genossen«, Dimitru glotzte die drei Brancusis an, »dann habt ihr die Gleichheit aller Proleten endlich hinbekommen. Dem Dummen sind alle schlau. Unter seinesgleichen.«
    »Bei dir jedenfalls wirkt das Gepiepe schon«, spottete Liviu, tippte dem Zigeuner mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und höhnte: »Mit euch Schwarzen ist sowieso kein Staat zu machen. Schafft erst einmal Mehrwert. Unter Stalin wärt ihr alle ... «
    »Genau! Exactamente. Sag ich doch«, unterbrach ihn Dimitru. »Iossif war ein schlauer Fuchs. Aber er hatte Probleme bei der Proletarisierung. Große Probleme. Denn mit seiner Methode der Staatslenkung kriegte er die Egalität aller Sowjets einfach nicht hin. Gewiss, der Oberste Genosse hat sich bemüht: größere Zuchthäuser, höhere Kerkermauern, Wasser und Brot, halbe Ration. Durch immer mehr Galgen und Erschießungskommandos versuchte er, der letzten Auswüchse der Ungleichheit Herr zu werden. Und was kam dabei heraus? Iossif musste die Arbeitslager für die Ungleichen immer weiter ausdehnen. Die Grenzen der Gefängnisse wurden unüberschaubar. Niemand weiß heute, wer drinnen und wer draußen ist. Ein Dilemma. Der Sowjet hat den Überblick verloren. Deshalb der Sputnik. Das Piepen eliminiert den Geist und den Willen. Und wo kein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher