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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam
Autoren: Rolf Bauerdick
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mangelnder väterlicher Fürsorge beklagte.
    Drei Stunden dauerte der Weg zum Mondberg. Als meine Beine kräftig genug waren, den Aufstieg ohne nörgelndes Gemurre durchzustehen, nahm Opa mich regelmäßig mit zur Jungfrau vom Ewigen Trost. Beim Eintritt in die Kapelle bekreuzigten wir uns und entboten der Gottesmutter unseren Gruß. Als Kind war mir die Madonna immer ein wenig unheimlich. Ihr Antlitz, das ein offenbar nur mäßig talentierter Bildhauer vor Jahrhunderten aus einer Rotbuche herausgearbeitet hatte, war alles andere als schön. Die Himmelskönigin stand auf einem Sockel, und schaute ich zu ihr auf, so entdeckte ich in ihrem Gesicht weniger majestätische als gequälte Züge. Der Künstler war mit dem Schnitzwerkzeug recht grob zu Werke gegangen, sodass mich ihre Sanftmut erst beim zweiten oder dritten Blick streifte. Der rechte Fuß der Gottesmutter lugte unter ihrem Schutzmantel hervor und stand auf einer Mondsichel. Augenscheinlich fehlte dem Holzschnitzer der Sinn für Proportionen. Das Jesuskind, das auf einer Weltkugel saß und über das Maria ihre schützende Hand hielt, war ihm zu klein geraten, die mächtigen Brüste der Madonna hingegen zu groß. Genau wie die Mondsichel. Generationen von Gläubigen deuteten den Fuß auf der Sichel als Zeichen des Sieges der Muttergottes über die Türken, die unter dem Zeichen des Halbmondes versucht hatten, Europa ins Muselmanentum zu zwingen. Was ihnen aber infolge des himmlischen Beistandes der Madonna vom Ewigen Trost in Baia Luna nicht geglückt war.
    Nach dem Besuch der Gottesmutter setzte ich mich mit Großvater auf die Felsen zwischen den Wacholdersträuchern. Mit den immer gleichen Worten: »Dann wollen wir mal sehen, was Kathalina uns alles eingepackt hat«, öffnete Opa den Rucksack, holte eine Kanne gezuckerten Schwarztee, gekochte Eier sowie Tomaten, Speck und Schinkenbrote hervor. Nach dem Essen legte sich Ilja ins warme Gras, bis er erquickt von einem halbstündigen Nickerchen wieder aufwachte. Dann saßen wir eine Weile still und schauten über das Land.
    Könne man wie die Gottesmutter, die ja bekanntlich in leiblicher Gestalt in den Himmel aufgefahren sei, vom Mondberg aus fortfliegen, so erklärte mir Großvater, lande man schwerelos irgendwann in Amerika. Dabei streckte er den Arm aus und wies in die Richtung, wo er die Wolkenkratzer einer Stadt vermutete, die er »Nuijorke« nannte. Diese großartige Stadt, so Großvater, dränge sich als Ziel einer derartigen Flugreise geradezu auf. Das habe ihm auch Dimitru bestätigt, der erklärt hatte, mit dem geografischen Raum zwischen den Orten Baia Luna und Nuijorke verhalte es sich wie mit dem Spannungsfeld eines elektrischen Magneten - Plus und Minus, wobei der eine Pol ohne den anderen zur Leere des Nichts verurteilt sei. So gesehen, erlaube Baia Luna dem amerikanischen Nuijorke überhaupt erst, groß zu erscheinen. Von Großvater erfuhr ich, dass sich der Amerikaner qua seines Freiheitsnaturells niemals mit Kleinigkeiten abgebe und grundsätzlich nur in zyklopischen Maßstäben denke. Der Amerikaner baue die höchsten Häuser der Welt, drehe die besten Zigarren und habe zur Ehre der Gottesmutter die kolossalste aller Marienstatuen errichtet, vor den Toren von Nuijorke, mitten im Wasser. Maria garantiere den Bewohnern der Wolkenkratzer Frieden, Wohlstand und Schutz vor den Attacken der Feinde. Die brennende Fackel in ihrer Hand weise nicht nur Schiffen aus aller Welt den Weg, die zerrissenen Ketten zu ihren Füßen verhießen dem Ankömmling auch die Freiheit von jeglicher Knechtschaft. Deshalb trage sie einen Strahlenkranz um ihr Haupt, wobei jede einzelne der sieben Zacken größer sei als der Kirchturm von Baia Luna. Die Zahl Sieben hatte Dimitru gedeutet als die sieben engsten Vertrauten Marias, wobei Gottvater, ihr Sohn und der Heilige Geist für die Gefilde des Himmlischen, die vier Evangelisten für irdische Belange zuständig seien.
    Auf dem Schulglobus konnte ich eine Stadt mit dem Namen Nuijorke nicht finden. Doch die Geschichte mit der Riesenmadonna und ihrer Feuerfackel stimmte anscheinend, denn ich hatte bei einem Besuch meines Schulfreundes Fritz Hofmann im Wohnzimmer der Familie ein beeindruckendes Marienplakat an der Wand hängen sehen, vor dem ich mit offenem Mund erstarrte. Das war sie. Mich wunderte, ein solches Madonnenbildnis ausgerechnet im Haus des Fotografenmeisters Hofmann zu entdecken, denn Fritz und seine deutschstämmigen Eltern Heinrich und Birta standen dem
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