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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam
Autoren: Rolf Bauerdick
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ihrem Schauspiel verzauberten. Die Geschichte eines Liebespaares namens Rhett und Scarlett erzählte sie so ergreifend, dass mich ein Hauch von Mitgefühl streifte und ich gern ihren Worten lauschte.
    In den Momenten, in denen sie versonnen aus dem Fenster schaute, träumte sich die Lehrerin in die Welt der »Aprähkultür«. So ähnlich nannte sie die Gewohnheit, wenn die feine Gesellschaft nach abendlichem Kulturgenuss in allerfeinsten Restaurants nicht etwa zu speisen, geschweige denn zu essen, sondern zu dinieren pflegte. Ich hatte damals keine Ahnung, was »die Nieren« mit der anscheinend nobelsten Form der Nahrungsaufnahme zu tun hatten. Jedenfalls benutzte die Barbu des Öfteren diese Anspielung auf jenes Organ, in dem nach meinen Kenntnissen über den menschlichen Körper flüssige Stoffe zu Urin destillierten. Was das kultivierte Trinken anging, so erzählte sie von Kellnern in schwarzen Fräcken, die in den Lokalen der ersten Kategorie lautlos umherschwirrten und für hundert verschiedene Getränke hundert verschiedene Gläser zur Hand hatten. Was mich verblüffte, zumal wir in Großvaters Schankstube nur über eine Sorte Gläser verfügten. Doch wenn ich der Barbu zuhörte, wie sie die Frackträger pries, die den Wein nur tropfenweise in Kristallkelche einschenkten und anschließend die Flasche mit weißen Tuchservietten penibel abtupften, und wenn ich dabei in das vom Branntwein gezeichnete Gesicht meiner Lehrerin blickte, dann wurde auch mir klar, dass einiges in ihrem Leben schiefgelaufen war.
    Deshalb überwogen im Unterricht die schlechten Tage, an denen staatsbürgerkundliche Unterweisung auf dem Plan stand. Neuerdings schrieb die Regierung auch ein Treuegelöbnis zum Vaterland vor, gekoppelt an das Bekenntnis zur Arbeiterpartei, von der in diesen Zeiten allerorten die Rede war. Der Kronauburger Bote vermeldete täglich die Gründung neuer Lokalverbände. In Baia Luna preschten besonders die drei Brancusi-Brüder und der Eisenschmied Emil Simenov in der Angelegenheit nach vorn, die Bauern zum Parteibeitritt zu bewegen und die Kollektivierung der Landwirtschaft als Schritt in die Zukunft zu begrüßen. Was auf wenig Gegenliebe stieß, aber auch keinen offenen Widerstand hervorrief. Wogegen hätte der sich auch richten können? Gegen die aufgeblasenen Brancusis, die im Dorf ihre Propagandareden hielten, aber ansonsten nichts zu melden hatten? Gegen die Herren der Partei in der fernen Hauptstadt, die zwar Gesetze erließen, deren Einhaltung jedoch niemand in Baia Luna kontrollierte? Also wartete man ab in der Gewissheit, es den Kollektivisten zu zeigen, würden sie eines Tages im Dorf auftauchen. Auch bei der Barbu gewann ich bisweilen den Eindruck, als lehre sie die Statuten der Partei nur widerwillig. Mitunter kam es mir vor, als übertreibe sie ihr Parteigeschwafel derart, um bei uns Schülern den Effekt gelangweilter Abscheu hervorzurufen.
    »Vielleicht will sie sich für etwas rächen«, hatte ich Fritz gegenüber gemutmaßt. »Für etwas, das sie im Paris des Ostens erlebt hat. Eine bittere Enttäuschung möglicherweise. Oder ein böses Unrecht.«
    »Kann ich mir nicht vorstellen«, hatte Fritz erwidert. »Du meinst, sie lässt uns die Parteiphrasen fressen, damit wir kotzen? Nein, so schlau ist die Barbu nicht.«
    So drängte sich als Erklärung für Barbus Sozialismusgefasel nur der Schnaps auf, der den Fluss ihrer Hirnströme wohl aus dem Takt gebracht hatte. Jedenfalls wäre ein Mensch mit unversehrtem Verstand niemals auf die Idee gekommen, wehrlose Schüler Gedichte von Alfred Margul-Sperber abschreiben zu lassen. Bestimmt hatten wir das Poem Die Partei Dutzende Male zu Papier gebracht.
    »Nun sieh dich um: wohin dein Blick sich wendet, regt sich das Werden einer neuen Welt,
    und morgen ist so manches schon vollendet,
    was heut dein Sinn noch kaum für möglich hält.«
    So lautete die erste Strophe. Und so stand es in den staatlichen Lesebüchern, abgedruckt auf Seite fünf, direkt hinter dem Porträt des Präsidenten Gheorghiu-Dej.
    Da ihn die Abschreiberei anödete, hatte sich Fritz zur Gewohnheit gemacht, die Strophen des Gedichtes abzuwandeln. Während einer Schulstunde schob er mir sein Heft zu. Ich las:
    »Du siehst dich um, schon ist dein Blick verschwendet, an die Parteiidioten, sie regier'n die Welt,
    und morgen ist der Schwachsinn dann vollendet, den Fräulein Barbu heut für möglich hält.«
    »Bist du wahnsinnig! «, zischte ich. »Steck das weg.« Nicht die aufsässigen Worte
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