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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam
Autoren: Rolf Bauerdick
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katholischen Glauben gleichgültig gegenüber und besuchten als Einzige im Dorf nie die heilige Messe. Merkwürdig war zudem: Die Statue stand nicht in Nuijorke, sondern unzweifelhaft in New York, wie in schwarzen Lettern auf dem Plakat zu lesen war. Da Herr Hofmann in der Bezirksstadt Kronauburg ein Lichtbildatelier betrieb, lag für mich die Frage nahe, ob er gar selber das imposante Bild mit seinem Fotoapparat geschossen habe. Ich erntete nur ein unwirsches »Nein!«.
    Mit dem gleichaltrigen Fritz Hofmann besuchte ich vormittags die dörfliche Volksschule, wo wir uns mit sechzig Jungen und Mädchen im Alter von sieben bis fünfzehn in einem Klassenraum drängten. Dass die Plätze dennoch für alle reichten, lag an den Zigeunern, die ihre Kinder nur selten oder gar nicht zur Schule schickten. Unterrichtet wurden wir von der Lehrerin Angela Barbulescu. Anfang der fünfziger Jahre wurde sie vom Ministerium für Volkserziehung von der Hauptstadt nach Baia Luna beordert, zwangsweise, wie man mutmaßte, wobei die Gründe für diese Maßnahme im Dunkeln blieben. Früher, das hatte ich bei Männergesprächen in Großvaters Schenke aufgeschnappt, sollte sie recht ansehnlich gewesen sein und sich Mühe gegeben haben, ihre Neigung zur Trinkerei zu verbergen. Bis sie irgendwann jegliches Schamgefühl verlor. Die Dorffrauen indes bestanden darauf, die Barbu habe das Gespür für die Überschreitung der Grenzen des Anstands niemals verlieren können, habe sie doch den natürlichen Instinkt der Frau für das Schickliche nie besessen. Hatte doch jeder am ersten Sonntag ihrer Anwesenheit ihre Hände gesehen, als sie während der Messfeier zum Altar trat, um den Leib des Herrn zu empfangen. Auf ihren Nägeln grellte ein blutroter Glanzlack. Kora Konstantin bekundete sogar, das obszöne Weibsstück habe sie daran gehindert, den Worten des Pfarrers im Geist der Andacht zu lauschen. Kora brachte in Umlauf, der Barbu hafte ein »nümfotischer Wesenszug« an, weshalb man sie zur Abtötung ihrer Neigungen in die Berge verbannt habe. Allerdings hatte ich derlei Reden seit Längerem nicht mehr gehört. Angela Barbulescus Nagellack war abgeblättert. Zudem ließen die Ehefrauen hinter ihren Gardinen ihr keine Gelegenheit, sich auch nur drei Schritte unbeobachtet zu bewegen.
    Im letzten Jahr meiner Schulzeit schlurfte die Barbu morgens in Gummistiefeln in den Unterricht, gekleidet in ein dunkelblaues Kleid, das vor Schmutz speckig glänzte und einen Geruch verströmte wie ranzige Butter. Oft stand sie schwankend vor der Schiefertafel, bemüht, sich aufrecht zu halten. Wenn sie mit ihrem Stock herumfuchtelte und die Landeshymne dirigierte, mussten wir strammstehen, die Hand aufs Herz legen und alle acht Strophen bis zum Ende herunternudeln. Danach fragte sie heimische Geschichte ab, wobei die Jüngeren zuhörten, wie die Älteren die heldenhaften Taten des Türkenbezwingers Michaels des Tapferen priesen, Geschichtszahlen von den Dakern bis Gheorghe GheorghiuDej herunterrasselten und zum tausendsten Mal erklärten, warum sich das katholische Baia Luna in früheren Jahrhunderten nicht den Reformierten angeschlossen hatte und niemals von den Türken eingenommen worden war. Dazu sangen wir das Marienlied von der Patronin voller Güte in ihrem Schutzmantel. Anschließend wurde gerechnet.
    Die Klassen eins bis vier addierten und subtrahierten Zahlenkolonnen von null bis hundert, die Klassen fünf bis acht mussten Tausender und Zehntausender malnehmen und die Steigerungsquoten aus Milchproduktion und Schweinernast nach der Kollektivierung der Landwirtschaft in Prozente umrechnen, obwohl die Verstaatlichung der Bauernhöfe im Bezirk Kronauburg noch gar nicht stattgefunden hatte. Zum Glück warf die Barbu immer nur einen oberflächlichen Blick auf die Ergebnisse. Mein Nachbar Fritz Hofmann und ich waren daher in Windeseile mit den Aufgaben fertig, indem wir abenteuerliche Fantasiezahlen zu Papier brachten.
    Wenn Frau Barbulescu jedoch nüchtern war und einen guten Tag hatte, setzte sie sich auf ihr Pult, strich ihr blaues Kleid glatt und erzählte vom Leben im Paris des Ostens. So wurde die Hauptstadt genannt. »Ein funkelndes Juwel des Abendlandes.« Das betonte sie immer wieder. Dabei pries sie die machtvollen Stimmen der Chanteusen und die tänzerische Anmut der »Ballettrizen vom Schwanensee«, schwärmte von verspiegelten Kulturpalästen, Theatertempeln und Lichtspielsälen, wo begnadete Darsteller aus Amerika auf Leinwänden die Zuschauer mit
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