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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam
Autoren: Rolf Bauerdick
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erst am Abend zu rauchen, sich schon jetzt eine »Kubanische«, wie er seine Zigarren nannte, zu gönnen. Er holte die letzte Caballero hervor, brannte sie an. »Amerika«, seufzte er und blies einige Rauchkringel in die Luft. »Amerika! Welch ein Land.«
    Meine Mutter Kathalina und ich wussten natürlich, dass Iljas Kubanische niemals im Frachtraum eines Ozeandampfers den Atlantik überquert hatten. Die kyrillischen Buchstaben auf den Banderolen verrieten, dass der Tabak in einer bulgarischen Fabrik bei Blageovgrad gedreht und wahrscheinlich in einem Diesellaster über die neue Brücke der Freundschaft von Russe nach Giurgiu über die Donau gekarrt worden war. Aber Mutter schwieg und ließ ihren Schwiegervater in dem Glauben, Kuba sei der wunderbarste Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika.
    Dass Opa kaum lesen konnte, vermutete ich bereits im Alter von fünf, sechs Jahren. Bis dahin hatte ich mit Hingabe an seinen Lippen gehangen, wenn er Geschichten erzählte oder so tat, als lese er aus einem Buch vor. Mir fiel jedoch auf, dass er sich bisweilen heillos in den Handlungen verspann, Orte, Zeiten und Personen durcheinanderbrachte und nur äußerst selten die Buchseiten umblätterte. Nach meiner Einschulung wurde meine Vermutung zur Gewissheit. Um Großvater nicht bloßzustellen, verriet ich meine Erkenntnis niemandem. Weil Ilja sich jedoch mit Leichtigkeit durch die Welt der Zahlen jonglierte und weil meine ledige Tante Antonia, die treppauf in einer Dachkammer Quartier bezogen hatte, im häuslichen Kaufladen die Buchhaltung erledigte, blieb Iljas Makel dem ganzen Dorf und selbst dem Zigeuner Dimitru über lange Jahre verborgen.
    Mein Vater Nicolai hingegen hatte mit dem Lesen und Schreiben seinerzeit gewiss keine Schwierigkeiten. Das entnahm ich den Unterstreichungen und Randnotizen, die er in jungen Jahren in einem Buch mit den lyrischen Werken Mihail Eminescus vorgenommen hatte. Ansonsten waren Das Kapital von Karl Marx und ein abgenutztes Schachspiel, bei dem ein Stumpen aus Kerzenwachs die weiße Dame ersetzte, das Einzige aus seiner Hinterlassenschaft, was sich in späteren Zeiten als nützlich erweisen sollte.
    Erinnerungen an meinen Vater hatte ich keine. Nicolai Botev war ein Fremder, der für mich nur auf einer Fotografie existierte, die im Wohnstubenschrank hinter einer Glasscheibe steckte. Das Foto zeigte ihn als Soldaten auf Heimaturlaub und ließ sich anhand einer Notiz auf der Rückseite auf den Dezember 1942 datieren. Mit schmalen Wangen saß Nicolai neben meiner Mutter auf einem Kufenschlitten vor dem verschneiten Abhang des Friedhofshügels von Baia Luna . Ich stand vor ihm, schätzungsweise ein Jahr alt, vermummt mit einem Schal und einer tief über die Ohren gezogenen Kasachenmütze. Auf diesem Familienfoto gab es etwas, das ins Auge stach und bei mir einen verstörenden Eindruck hinterließ. Es waren Vaters Hände. Sie hingen schlaff und kraftlos über meinen Sch ultern, unfähig, Halt zu geben.
    In Baia Luna lebten in den fünfziger Jahren zweihundertfünfzig Menschen, die sich auf dreißig Häuser verteilten. Im Südosten ragte der Mondberg mit der Wallfahrtskapelle der Madonna vom Ewigen Trost auf, im Westen wurde das Dorf von dem mächtigen Felsengebirge der Karpaten begrenzt, während sich in nördlicher Richtung die dörflichen Weiden und Felder erstreckten, bevor sich das Auge in der Weite der transmontanischen Hügellandschaft verlor. Unterhalb des Mondbergs floss die Tirnava. Im Frühling nach der Schneeschmelze verwandelte sich der Fluss in einen tosenden Strom, in den heißen und trockenen Sommern hingegen schrumpfte die Tirnava zu einem dünnen Rinnsal fauligen Wassers, aus dem die Fische an Land sprangen, um nicht zu ersticken. Folgte man dem Flusslauf, so kam man an dem hölzernen Wegkreuz vorbei, das an das Unglück im Schneesturm des Winters 1935 erinnerte, und gelangte zu Fuß in anderthalb Stunden in das Nachbardorf Apoldasch.
    An den Winterabenden holte Mutter das Foto hinter der Scheibe hervor, legte es auf ihren Schoß und saß schweigend in ihrem Sessel. Stunde um Stunde konnte sie so sitzen, bis der Schlaf ihr ein entrücktes Lächeln ins Gesicht schrieb. Niemals sprach sie über meinen Vater. Ich glaube, sie wollte verbergen, dass ihre Gedanken ständig um ihn kreisten und mich nicht an seinen Verlust erinnerten. Mir aber kam die Abwesenheit des Vaters ganz natürlich vor. Zudem war Großvater ein Garant dafür, dass sich niemand im Dorf über mich wegen
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