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Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich

Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich

Titel: Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
Autoren: Ines Thorn
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Kapitel 1
    Frankfurt im Januar 1533
    P ater Nau fror. Seit zwei Stunden saß er schon im Beichtstuhl und hörte sich die Sünden seiner Schäfchen an. Als junger Pater hatte er geglaubt, im Winter sündigten die Menschen aufgrund der Kälte weniger. Doch inzwischen wusste er, dass dies ein Irrtum war. Auf den Straßen lag Schnee, der Wind heulte durch die Gassen, die Frankfurter blieben in ihren warmen Stuben hocken und kamen vor lauter Nichtstun auf die seltsamsten Einfälle. Brave Ehemänner prügelten aus Langeweile ihre Weiber, Schwestern machten ihren Schwägern zum Zeitvertreib schöne Augen, Mütter hatten Muße, die Mängel ihrer Schwiegertöchter genauer zu erkunden, und die Gesellen in den Werkstätten trieben zur Zerstreuung ihren Schabernack mit den Lehrbuben.
    «Und dann, Pater, hatte ich unzüchtige Gedanken, als ich dem Schlachter beim Zerlegen eines Schafes zuschaute.»
    «So, so», sagte Pater Nau. «Ihr seid jetzt über sechzig Jahre, Mutter Dollhaus. Ihr solltet Eure Gedanken zügeln.»
    «Ja, Pater. Ich bete jeden Abend dafür. Aber wenn ein Mann so kräftige Muskeln hat, dann vergesse ich mein Alter. Erst gestern …»
    Pater Nau hörte diese Geschichten Woche für Woche wieder, er langweilte sich unsäglich, und seine Gedanken schweiften ab. Vor seinem geistigen Auge erschien eine Kanne mit dampfendem Würzwein, auf dem Tisch stand ein gedeckter Apfelkuchen mit Schlagsahne. Hoffentlich sind Nüsse darin, dachte Bernhard Nau.
    «Pater? Pater!»
    «Äh … ja?»
    «Meine Buße.»
    «Ach so, ja. Also, Ihr betet zehn Rosenkränze und zehn Ave-Maria und nehmt heute Abend eine kalte Waschung vor.»
    «Das ist alles? Ich soll mich nicht geißeln?»
    «Herr im Himmel, nein, Mutter Dollhaus. Ihr sollt etwas viel Schwierigeres tun. Nämlich Eure Gedanken im Zaum halten. Und jetzt geht. Der Herr sei mit Euch.»
    Ein Niesanfall des Paters begleitete die Abschiedsformel.
    Im Beichtstuhl neben ihm raschelte es, und der Pater seufzte auf. Hoffentlich war Mutter Dollhaus die Letzte, dachte er. Es ist unglaublich, wie viele Sünden sich in einer Woche so ansammeln können.
    Er lauschte nach draußen, und als alles ruhig blieb, schlüpfte er zurück in seine neuen Schuhe, die an den Zehen furchtbar drückten, und wollte den Beichtstuhl verlassen. Da hörte er schwere Schritte durch das Kirchenschiff hallen. Seufzend ließ sich der Pater zurück auf seinen Stuhl fallen. Kurz darauf knarrte die Tür, ein Schatten fiel durch die Luke zwischen den beiden kleinen Kammern.
    «Der Herr sei mit Euch …», leierte Pater Nau, doch von nebenan kam kein Laut. Er beugte sich etwas nach vorn und spähte durch die vergitterte Luke zwischen den beiden Beichtkammern. Er sah eine Gestalt, die in einen dunklen Umhang gehüllt war, die Kapuze tief in die Stirn gezogen, und heftig schnaufte, aber ansonsten regungslos dasaß.
    «Welche Sünde habt Ihr auf Euch geladen?», wollte der Pater wissen.
    Ein Schnauben war die Antwort.
    «Könnt Ihr nicht reden?», fragte der Pater.
    Der andere schwieg. Pater Nau überlegte, ob es in seiner Gemeinde jemanden gab, der stumm war. Doch außer einer alten Magd fiel ihm niemand ein. Obwohl er den Schatten nur kurz gesehen hatte, war er überzeugt, dass es sich bei dem Jemand nebenan auf gar keinen Fall um die stumme Magd handelte. Und wenn es nicht die stumme Kathrein war, dann konnte der Schatten auch sprechen.
    «Wie soll ich von Euren Sünden erfahren? Ihr müsst schon reden. Dafür ist die Beichte gemacht. Erleichtert Euer Gewissen. Sprecht Euch aus. Alles, was gesagt wird, bleibt unter uns. Das wisst Ihr doch, oder?»
    Von der anderen Seite erklang ein tiefer Seufzer.
    «Na, los doch. Redet mit mir.»
    Noch mehrmals versuchte Nau, den Sünder zum Sprechen zu bewegen, doch außer hastigen Atemzügen und leisem Röcheln war nichts zu hören. Schließlich verlor Pater Nau die Geduld. «Also gut. Es ist kalt hier. Ich sitze seit Stunden in diesem Kasten. Meine Zehen sind eingefroren. Wenn Ihr nicht reden wollt, so lasst Ihr es eben. Ich spreche Euch von Euren Sünden los, so Ihr keine Todsünde begangen habt und aufrichtig bereut. Betet zehn Rosenkränze und zehn Ave-Maria und nehmt heute Abend eine kalte Waschung vor.»
    Da begann der Schatten zu sprechen. Eigentlich war es nur ein Flüstern, und Pater Nau musste sich sehr anstrengen, um die Worte zu verstehen:
    «Warum bin ich nicht gestorben von Mutterleib an?
    Warum bin ich nicht verschieden, da ich aus dem Leibe
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