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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam
Autoren: Rolf Bauerdick
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und kaute.
    Dann erhob sich Ilja Botev und sagte:
    »Amerika. Welch ein Land! Das beste. Bring mich nach Hause.«
    Als man sich in Transmontanien wieder frei bewegen konnte und Scharen von Reportern ihre Berichte aus dem Reich des Schattens rund um die Welt verbreitet hatten, fand ein französischer Journalist sogar den Weg nach Baia Luna. Es muss im März oder April 1990 gewesen sein, als der Mann bei uns am Küchentisch saß, um mit meiner Tante Antonia ein Interview zu führen.
    »Aus Paris sind Sie angereist? Von so weit her? Aber ich muss Sie enttäuschen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich dem Herrn Berichterstatter etwas Kluges in sein Mikrofon sprechen kann, aber wenn Sie es wünschen, werde ich Ihren Fragen Rede und Antwort stehen.
    Mein Name ist Gabor, Antonia Carolea Gabor. Ich bin sechzig Jahre alt und hier in Baia Luna geboren. Vielleicht ist Ihnen das Wegkreuz am Ufer der Tirnava auf dem Weg hierher aufgefallen. Nein? Aber das kann man doch nicht übersehen! Das Unglück am Fluss geschah 1935. Heute denke ich, dass damals bereits die Linien meines Schicksals gezogen wurden. Ich war sechs Jahre alt, als meine Mutter Agneta mit mir im Winter mit dem Kutschwagen in die Tirnava stürzte. Mein Vater Ilja und mein späterer Mann, der Zigeuner Dimitru Gabor, haben uns aus dem eisigen Wasser gezogen. Dimitrus Vater Laszlo kam um bei dem Versuch, uns zu retten. Mutter starb danach an einer Lungenentzündung. Ist es nicht merkwürdig, dass ich bei dem Unglück meine Mutter verlor und Dimitru seinen Vater? Aber bis Dimitru und ich ein Paar wurden, das dauerte. Ich habe doch die Hälfte meiner Jahre verschlafen. Warum? Etwas war in mir, das war so schwer, dass ich mich nicht aufraffen mochte. Was das war, wollen Sie wissen? Ich weiß es nicht. Ich glaube aber, es war mein Gemüt. Heute geht es mir besser. Wenn Pavel im Frühjahr mit seiner Frau nach Italien geht, werde ich die Schankbutike weiterführen. Wissen Sie, Sozialismus, Kommunismus, Demokratie - in Baia Luna bleibt sich das gleich. Zuika bleibt Zuika. Den brauchen die Männer immer. Ach, verzeihen Sie, jetzt habe ich Ihnen gar kein Glas Gebrannten angeboten.«
    »Non, non, merci, Madame Gabor«, wehrte der Journalist ab. »Ich möchte behalten einen klaren Kopf.«
    »Wenn Sie meinen, der Herr. Jedenfalls wurden mein Vater Ilja und Dimitru nach dem Unglück an der Tirnava Freunde, und sie blieben Freunde ihr Leben lang bis zu ihrem Tod. Mein Vater starb am 28. Dezember 1989, mein Mann Dimitru folgte ihm drei Tage später, in der Neujahrsnacht. Zwei Jahrzehnte hatten sie sich aus den Augen verloren, aber das Band ihrer Freundschaft war stark. Keine Macht konnte es zerreißen. Viele Jahre bin ich mit Dimitru über Land gefahren. Er suchte seinen Freund, und ich suchte meinen Papa. Dann fiel mein Dimi in die Schwermut. Weil die Geschichte mit der Muttergottes nicht stimmte. Steht in der Bibel, ziemlich weit hinten beim heiligen Johannes. Weiß der Kuckuck, was es mit dieser Frau mit dem Mond unter ihren Füßen auf sich hat, jedenfalls ist es nicht die Himmelskönigin Maria. Als Dimi starb, glaube ich, da hatte er eine Ahnung, wer diese Frau auf dem Mond sein könnte. Mit mir hat er über solche Sachen kaum gesprochen. Ich habe ihm seine Geheimnisse immer gelassen. Mir reichte es, in seiner Nähe zu sein. Meinen Vater fanden wir erst spät, als Dimi schon alle Hoffnung aufgegeben hatte. Woher sollten wir auch wissen, dass sie Ilja zu den Irren nach Vadului gesperrt hatten?
    Auch hier im Dorf sagten die Leute, mein Vater sei krank im Kopf gewesen. Weil er immer von Amerika träumte. Aber er war nicht verrückt. Er ist nur aus der rechten Spur geraten. Und, Herr Journalist, wissen Sie, weshalb er sich bei seiner Suche verirrt hatte? Mein Vater hat dem Papst geglaubt. Diese Geschichte mit der Auferstehung der Gottesmutter. Mit Leib und Seele soll doch die Maria in den Himmel aufgenommen sein. In der Heiligen Schrift steht das aber ganz anders. Nur Jesus ist auferstanden. Sonst niemand. Wollen Sie, dass ich Ihnen den Bibeltext vorlese?«
    »Non, non, Madame. Ich denke nicht, dass die Leute an diesen Geschichten interessiert sind.«
    »Schade. Da könnten sie lernen, wie wenig heute noch auf alles Verlass ist. Der heilige Apostel Johannes schreibt, nur der Menschensohn ist in den Himmel aufgestiegen. Die Päpste aber verkünden, die Gottesmutter Maria auch. Wer hat nun recht? Sagen Sie, wem soll man da noch glauben? Mein Vater jedenfalls hat dem Papst
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