Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt
Autoren: Friederike Schmöe
Vom Netzwerk:
»gegen halb fünf?«
    »Ja, ja«, knurrte sie ungeduldig. »Rast auf mich zu wie ein wildgewordener Bulle, und wenn ich Glück gehabt hätte, Junge, dann hätte das Auto mich gerammt und ich wäre meine Sorgen los. Die Kinder im Ausland verheiratet, was ist denn das für ein Zustand! Keiner der für mich sorgt, Junge. Weißt du, was das heißt?«
    »Sicher«, murmelte Guga.
    »Hoffe, du kümmerst dich um deine alte Mutter?«
    »Selbstverständlich, Kalbatono.« Er verkniff sich ein Grinsen. Mit seinem mikroskopischen Gehalt sich um seine Mutter zu kümmern! Sie tourte als Regisseurin um die Welt, gefeiert und mit Preisen überhäuft, schön wie der Sommerwind, das Aushängeschild des georgischen Films.
    »Lach mal nicht so frech«, sagte die Alte streng. »Wirst sehen, wie das ist, wenn man alt ist und einsam. Hast du Kinder? Söhne?«
    »Nein.«
    »Sieh lieber zu, dass du eine Frau findest, mein Hübscher. Hier draußen läuft dir garantiert keine über den Weg. Du musst mal was unternehmen. Klar? Ausgehen, dich umsehen.«
    »Als das Auto auf Sie zuraste, Kalbatono«, versuchte es Guga mit dem Mut der Verzweiflung, »haben Sie da den Fahrer erkennen können?«
    »Wie stellst du dir das vor? Das ging alles viel zu schnell!« Sie wandte sich kopfschüttelnd ab und stapfte zurück zu ihrem Käsestand.
    Guga ging um das Autowrack herum. Die Spurenlage hatte sich seit gestern enorm verschlechtert. Das war es, was ihn an seinem Land aufregte: So viel wäre zu tun und zu erreichen, wenn diese Gesellschaft endlich in die Gänge kommen würde. Wenn seine Landsleute schnell und effektiv handeln würden, so wie sie das in Amerika taten. Wenn sie sich einfach für die Not der anderen interessieren würden. Hier, in Georgien, standen die Männer lieber herum und rauchten und diskutierten über Politik, jemand brachte eine Flasche Schnaps, und dann spielten sie Domino und der Tag verging.
    »He, Junge!«, rief die Alte. Sie hatte auf allen vieren die Böschung erklommen. Nun stand sie direkt neben dem stacheligen Brombeerbusch, an dem ein paar vertrocknete Früchte vom Vorjahr hingen, und winkte ihm zu.
    »Was ist denn!« Er wollte in Ruhe nachdenken.
    »Schau mal, mein Junge! Da habt ihr was übersehen, du und deine Kumpels!« Sie wedelte wie wild mit den Armen.
    Genervt schritt Guga zu ihr hinüber. Er hatte hier wichtige forensische Arbeit zu leisten, und diese Großmutter …
    »Schau mal! Junge, schau mal! Da liegt was. Hier unter dem Strauch. Sieht aus wie ein Buch. Das liegt noch nicht lange hier, sonst wäre es komplett durchweicht, soviel weiß ich auch, obwohl ich nicht viel von der Schule hatte in meinem Leben.«
    Guga bückte sich und lugte zwischen die Zweige des Brombeerstrauchs. »Tatsächlich!«
    Während die Alte bestätigend murmelte, kroch er zwischen die dornigen Zweige und fischte nach der Kladde. Als er sie endlich zwischen die Finger bekam, hatte er zwei blutige Kratzer im Gesicht.
    »Ein Notizbuch!«, rief die Alte aufgeregt.
    Guga schlug es auf. Etwa die Hälfte war vollgeschrieben, in kleinen, runden Buchstaben, lateinischen Buchstaben, und in einer Sprache, von der Guga wusste, dass es Deutsch war.

5
    »Lass uns da hingehen!« Juliane stand mitten in meinem Zimmer, das Haar glänzte vor Gel, die Augen leuchteten. So aufgedreht hatte ich sie lange nicht gesehen. Mit einem bunten Prospekt wedelte sie vor meiner Nase herum.
    »Wohin denn?«, knurrte ich und wälzte mich auf die Seite. Mühsam richtete ich mich im Bett auf. Lynn hatte kein übles Hotel aufgetan. Große Panoramafenster gaben den Blick auf das alte Tbilissi frei. Die Stadt balancierte in heiterer Gleichgültigkeit in der vor Wärme flirrenden Luft. Plattenbauten, zu erschöpft, um einander ihr Leid zu klagen. Die Fassaden aufgerissen, verfärbt, bröckelnd. In Deutschland hätte man vermutlich ›Betreten verboten‹ in Großbuchstaben an die Wände geschrieben. Holzhäuser ohne Dach. Grasbüschel wucherten zwischen zusammengebrochenen Mauern hervor. Ich sah Kirchenkuppeln aller Art. Georgische, russische, griechische. Einen lehmigen Fluss, gesäumt von mächtigen Bäumen. Eine karge Bergkette im Hintergrund. Dieses irgendwie orientalische Ensemble wölbte sich sorglos einem blitzblanken, blauen Himmel entgegen. Lynn hatte recht gehabt: Wir waren in ein südliches Land geflogen, in dem der Frühling längst Einzug gehalten hatte.
    »Von meinem Zimmer schaue ich auf den Berg da hinten!« Juliane fuchtelte mit den Armen. »Sieht schick aus,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher