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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt
Autoren: Friederike Schmöe
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Motorrad untergestellt hatte. Er schwang sich in den Sattel. Der Motor sprang sofort an. Erleichtert gab er Gas. Er mochte das Hochgebirge nicht. Plötzlich schien es ihm, als hörte er die Berge atmen. Kurz vor der nächsten Haarnadelkurve wandte er sich um und warf einen letzten Blick auf die schwarze Wolke, die ihm, zwischen den kahlen Hängen dahintreibend, gleichgültig nachsah.

1
    Der Friedhof von Ohlkirchen drückte sich verschämt an die lachsrosa gestrichene kleine Kirche. Bayerisch, Barock, Zwiebelturm. Die Idylle störte der schneidende Wind, der von Osten kommend meine Laune in den Keller trieb.
    Wir standen zu dritt neben dem offenen Grab, in das die Helfershelfer mit den diskreten Uniformen einen schlanken, schwarzen Sarg herabsinken ließen. Rechts neben mir hörte ich Juliane tief durchatmen. Sie war meine beste Freundin, meine Ersatzmutter und mein Fels in der Brandung. Mehr als mein Lebenspartner Nero Keller, der sich links neben mir aufgestellt hatte, um Dolly Streitberg, Julianes Schwester, die letzte Ehre zu erweisen. Ausdrücke wie ›letzte Ehre‹ passten zu Neros konservativer Weltsicht. Er war Hauptkommissar im Münchner Landeskriminalamt und hatte mit Cyberverbrechen zu tun, die mindestens so echt waren wie der Sarg, der nun tief unten in der Grube auf die Erde schlug.
    Uns gegenüber stand Dollys Sohn. Er war an die 30 und sah atemberaubend gut aus. Obwohl in festen Händen, interessierte ich mich dafür, wie Männer aussahen, und zwar von oben bis unten, innen und außen und umgekehrt. Dollys Sohn Sascha hätte einem Latin Lover Konkurrenz gemacht. Er war sehr schlank, fast mager, von vornehmer Blässe und phänomenal glattrasiert. Das schwarze, kinnlange Haar schmiegte sich in Wellen an seinen schmalen Kopf, im linken Ohr klemmte ein silberner Ring. Seine dunklen Augen blinzelten hinter einem Schleier aus Fassungslosigkeit hervor.
    »Mein Neffe bricht gleich in Tränen aus«, zischte Juliane mir zu. »Er glaubt, bei den Frauen käme das gut an.«
    »Ich wusste ehrlich gesagt nicht mal, dass Dolly Kinder hatte!«
    »Nur dieses eine.«
    Der Mann vom Beerdigungsinstitut trat von einem Bein aufs andere. Eine vierköpfige Trauergesellschaft, und dann noch Geschwätz am Grab, kaum dass der Sarg außer Sicht war. Er blickte zweifelnd zwischen Juliane und Sascha hin und her.
    »Kommen Sie zum Abschluss«, sagte Juliane cool.
    Nicht, dass sie ihre Schwester nicht geliebt hätte. Im Gegenteil, sie hatte mit einer für einen harten Brocken wie Juliane unerwarteten Zärtlichkeit an der Jüngeren gehangen und in den letzten Monaten für sie gesorgt. Wohingegen Sascha niemals aufgetaucht war, um sich um seine alzheimerkranke Mutter zu kümmern.
    »Sie bekam ihn mit Mitte 40, das war ein bisschen spät«, knurrte Juliane. »Verzogen und verhätschelt hat sie ihn. Sieh dir den Weichling an! Wird nur von seiner Lederjacke zusammengehalten!«
    Saschas Trauer schien vorwiegend aus Verblüffung zu bestehen. Dass er überhaupt eine Mutter gehabt hatte, und dass diese Mutter nun tot war. Beides bekam er nicht schnell genug auf die Reihe. Ich schlug den Kragen meines Mantels hoch. Falls es irgendwann endlich Frühling würde, hätte ich ein paar echt nette Klamotten im Schrank.
    Wir traten vor, um Erde und Blumen auf Dollys Sarg zu werfen. Der Anblick der Vergänglichkeit traf mich stets mit Wucht. Erinnerungen an die Beerdigung meines Vaters kamen hoch. In einem Herbst, kalt und nass wie dieser April. Und an meine eigene Sterblichkeit. Beinahe hätte auch ich in so einer Kiste gelegen und wäre verbuddelt worden. So lange war es nicht her, dass ich dem Tod von der Schippe gesprungen war. Tatsache war: Es würde irgendwann für jeden von uns so weit sein. Der Tod war leicht herbeizuführen; wenn nötig in Sekunden. Aber zu leben, das war die eigentliche Kunst. Und das Wunder. ›Celebrate your day. It’s your turn to win.‹ Wenn ich mich nicht sehr täuschte, hatte ich das vor Jahren in Disneyland gelesen. Auf einer Reportagereise durch die Sümpfe Floridas hatte ich mir Peter Pan und Micky Maus nicht nehmen lassen. Gestatten: Kea Laverde, 41, unverheiratet, Ghostwriterin, ehemalige Reisejournalistin. Das ewige Kind. 80 Kilo, Vollweib, jawohl, langes glattes schwarzes Haar.
    Wann und wo lag der große Gewinn für dich bereit, Dolly?, fragte ich im Stillen.
    Sie war 73 Jahre alt geworden. Zu Lebzeiten hatte sie stets älter und vor allem konventioneller gewirkt als ihre Schwester. Juliane ging auf die 79 zu.
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