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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt
Autoren: Friederike Schmöe
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einzige offene Wunde. Eine Reise holt sie weg von dem Schmerz und dem Groll, den sie gegen ihren Neffen hegt.«
    Tief innen gab ich zu: Nicht deshalb bevorzugte ich Julianes Gesellschaft auf dieser mehr als sonderbaren Reise. Sondern aus dem einfachen Grund, weil Julianes Selbstverständnis, die Welt sei ein sicherer Ort, ein Paradies für Neugierige und immer eine Unternehmung wert, meine Rückendeckung darstellte. Wo Nero Gefahr und Bedrohung witterte und sich Stunden im Internet herumtrieb, um die allerletzte Sicherheitslücke des georgischen Staates auszuloten, packte Juliane ihren Rucksack, kaufte eine Digitalkamera und ein neues Paar Turnschuhe. Juliane war pragmatisch. Sie gab keinen Cent auf Sicherheit, vertraute stattdessen ihrer unmittelbaren Anpassungsfähigkeit. So einen Begleitschutz brauchte ich dringend.
    »Wie lange willst du eigentlich noch Neros Bewertungen zu deinen eigenen machen?«, fragte Juliane in die Stille des Abends hinein. Der klassische Lidstrich aus den 60ern des letzten Jahrhunderts machte ihr Gesicht streng. Es war 20.45 Uhr. Eigentlich sollten wir nun boarden. Am Desk war niemand zu sehen. Ein paar Georgier saßen zusammen, lachten und ratschten und freuten sich auf zu Hause. Ein Diplomat mit schwarzem Aktenkoffer rieb sein müdes Gesicht. Eine Familie saß ein paar Sitze weiter, georgische Ehefrau, deutscher Mann, zwei süße Kinder.
    »Was meinst du?«, brachte ich heraus. Meine Hände schwitzten. Die Bordkarte war feucht und wellig geworden. Ich hielt mich daran fest, als könnte das Papier mich in den folgenden Stunden vor dem Wahnsinnigwerden retten.
    »Kea, Herzchen«, sagte Juliane und kehrte ihre mütterliche Seite heraus, die man ihr nicht ansah. Sie war dünn wie ein Strich, hätte in meine Klamotten dreimal reingepasst, trug das fast weiße Haar superkurz, schüttelte manchmal den Kopf, dass ihre goldenen Kreolen schlenkerten, und trug Jeans, die an einigen Stellen verdächtig durchgewetzt aussahen. »Mit 78 darf ich schon eine gewisse Lebenserfahrung haben. Nero ist Polizist, und Polizisten befinden sich in einer Art immerwährendem Alarmzustand. Sie kennen die Schlechtigkeit der Menschen, ihre Zwangsvorstellungen, und sie meinen, die Menschen, die sie lieben, ständig vor unsichtbaren Gefahren retten zu müssen.«
    Ich seufzte. Sie traf Neros Psychogramm ziemlich genau.
    »Er ist ganz froh, dass du mich begleitest«, sagte ich griesgrämig.
    »Als Anstandswauwau, was?« Sie lachte frech. »Also wissen Se, nee!«
    »Quatsch.«
    »Nero wäre sicher gern mitgekommen.«
    »Natürlich nicht. Außerdem hat er gar keine Zeit. Nach den verschiedenen Landeskriminalämtern haben ihn die Kollegen vom Bund angeworben. Die Seminare zur Internetkriminalität sind seine Geschäftsidee und sein Erfolgsrezept. Wenn er die Vorträge bis zum Sommer hinter sich hat, stellt ihn sein Chef vielleicht sogar frei, damit er ein halbes Jahr lang forschen kann.«
    »Ich glaube, es geht los.«
    Angstvoll sah ich zum Desk, wo zwei gelb-blau gekleidete Schönheiten die Bordkarten einsammelten und mit einem auf die Lippen tätowierten Lächeln einen guten Flug wünschten. Ich beschloss, als Letzte zu gehen und dann zu sagen: Ich hab’s mir anders überlegt. Holen Sie mein Gepäck zurück.
    »Vergiss es!«, raunte Juliane mir ins Ohr. »Du bist zu alt für solche Spielchen. Und zu erwachsen.« Sie hakte sich bei mir ein, nahm mir die zerfledderte Bordkarte aus der Hand, reichte sie der Stewardess und quittierte den frommen Wunsch für einen guten Flug mit einem zirpenden »thank you very much, Ma’am.«

4
    Guga Gelaschwili hatte die Nase voll von der Rennstrecke. Kaum begann kachetisches Gebiet, rasten sich die Autofahrer zu Tode. Zur Fortbildung war er ein Vierteljahr bei der Polizei in den USA gewesen; in Delaware, einem kleinen und gemütlichen Bundesstaat, und seitdem verachtete er die georgischen Verkehrsgewohnheiten noch mehr. Die Aggressivität und Kaltschnäuzigkeit, mit der Kraftfahrer sich hierzulande über die Straßen bewegten, verursachte eine extrem hohe Unfallquote, und bei dem schlechten Zustand vieler Pkws und der Unart, sich nicht anzugurten, endete ein Crash nach dem anderen tödlich. Guga Gelaschwili arbeitete bei der Patrouille, die früher einmal Verkehrspolizei geheißen hatte, und er hatte eine Menge Ideen im Kopf, was er verändern wollte. Doch dazu würde es nie kommen, denn bestimmte Dinge waren in diesem Land härter als der Asphalt, der an allen Ecken und Enden
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