Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer nie die Wahrheit sagt

Wer nie die Wahrheit sagt

Titel: Wer nie die Wahrheit sagt
Autoren: Catherine Coulter
Vom Netzwerk:
beim Vornamen genannt zu werden. Dann hatten sie das Gefühl, dass er mehr ein Freund war, jemand, dem sie vertrauen konnten. Und sie wurden dadurch verwundbarer, angreifbarer für ihn.
    Er sagte: »Sie haben schon mal versucht, sich umzubringen, vor sieben Monaten, nach dem Tod Ihres Kindes.«
    »Sie ist nicht einfach gestorben. Sie ist von einem Auto angefahren und fast zehn Meter weit in einen Straßengraben geschleudert worden. Sie wurde umgebracht.«
    »Und Sie geben sich die Schuld.«
    »Haben Sie Kinder?«
    »Ja.«
    »Würden Sie sich die Schuld geben, wenn Ihr Kind stirbt und Sie nicht bei ihm waren?«
    »Nein, nicht wenn ich nicht in dem Auto saß, das es anfuhr.«
    »Und Ihre Frau? Würde sie sich die Schuld geben?«
    Elaines Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf, und er runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich nicht. Sie würde bloß weinen. Sie ist eine sehr schwache Frau, sehr abhängig. Aber darum geht’s nicht, Mrs. Frasier.« Nein, wirklich nicht. Er würde Elaine zum Glück bald los sein.
    »Worum geht es denn?«
    »Sie gaben sich die Schuld, so sehr, dass Sie ein ganzes Röhrchen Schlaftabletten genommen haben. Sie wären gestorben, wenn Ihre Haushälterin Sie nicht rechtzeitig gefunden hätte.«
    »So hab ich es auch gehört«, sagte sie und hätte in diesem Moment schwören können, dass sie denselben Geschmack im Mund hatte wie damals, als sie im Krankenhaus erwacht war, vollkommen desorientiert, vollkommen verwirrt und so schwach, dass sie nicht mal ihre Hand hatte heben können.
    »Sie erinnern sich nicht, die Tabletten genommen zu haben?«
    »Nein.«
    »Und jetzt erinnern Sie sich nicht mehr daran, mit dem Wagen gegen den Mammutbaum gefahren zu sein. Der Sheriff schätzt, dass Sie mindestens sechzig Meilen draufhatten, vielleicht sogar mehr. Sie hatten großes Glück, Mrs. Frasier. Ein Mann fuhr gerade um die Ecke und hat gesehen, wie Sie gegen den Baum rasten. Er hat sofort den Notarzt gerufen.«
    »Wissen Sie, wer das war? Ich würde mich gerne bei dem Mann bedanken.«
    »Das ist jetzt nicht wichtig, Mrs. Frasier.«
    »Was ist dann wichtig? Ach ja, haben Sie vielleicht einen Vornamen?«
    »Ich heiße Russell. Dr. Russell Rossetti.«
    »Nette Alliteration, Russell.«
    »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich Dr. Rossetti nennen würden«, sagte er steif. Seine Wurstfinger zuckten, und da wusste sie, dass sie ihn verärgert hatte. Er fand, dass sie zu weit gegangen war. Das war sie vielleicht auch, aber es kümmerte sie nicht die Bohne. Sie war so müde, so hundemüde, wollte einfach nur die Augen schließen und das Morphium noch ein Weilchen länger wirken lassen.
    »Gehen Sie, Dr. Rossetti.«
    Er rührte sich eine ganze Zeit lang nicht.
    Lily wandte den Kopf ab und suchte Zuflucht im Vergessen. Sie hörte nicht einmal, wie er ging.
    Als fünf Minuten später Dr. Larch hereinspazierte, die kahle Birne rosa angelaufen, gelang es ihr, ein Auge aufzumachen und zu sagen: »Dr. Rossetti ist ein eingebildeter Idiot. Er hat Wurstfinger. Bitte, ich will ihn nicht noch mal sehen.«
    »Er ist der Meinung, dass Sie in ziemlich schlechter Verfassung sind.«
    »Im Gegenteil, ich bin in blendender Verfassung. Was man von ihm nicht behaupten kann. Er sollte dringend mal ein Fitnessstudio aufsuchen.«
    Dr. Larch lachte. »Er meinte außerdem, Ihre Abwehrhaltung und Unhöflichkeit ihm gegenüber seien sichere Zeichen dafür, dass Sie total überreizt sind und dringendst seine Hilfe benötigen.«
    »Soll das ein Witz sein? Ich bin so überreizt – von all den Schmerzmitteln –, dass ich jeden Moment einschlafen könnte.«
    »Ah, Ihr Mann ist da.«
    Sie wollte Tennyson nicht sehen. Seine Stimme, so volltönend, so selbstbewusst – sie klang viel zu sehr nach Dr. Rossetti, als hätten die beiden denselben Stimmbildungskurs auf der Seelenklempneruni belegt gehabt. Sie wäre glücklich, keinen von beiden je mehr zu Gesicht zu bekommen.
    Sie blickte an Dr. Larch vorbei und sah ihren Mann, den Mann, mit dem sie seit elf Monaten verheiratet war, mit bleichem Gesicht, die dichten Brauen zusammengezogen, die Arme vor der Brust verschränkt, in der Tür stehen. So ein gut aussehender Mann, so groß und muskulös, welliges, dickes Haar, nicht kahlköpfig wie Dr. Larch. Er trug eine Pilotenbrille, was richtig cool wirkte, und jetzt sah sie, wie er sie nach oben schob, eine liebenswerte Angewohnheit – zumindest hatte sie das geglaubt, als sie ihm das erste Mal begegnete.
    »Lily?«
    »Ja«, sagte sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher