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Wer nie die Wahrheit sagt

Wer nie die Wahrheit sagt

Titel: Wer nie die Wahrheit sagt
Autoren: Catherine Coulter
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und wünschte, er würde in der Tür stehen bleiben. Dr. Larch richtete sich auf und wandte sich ihm zu. »Dr. Frasier, wie gesagt, Ihre Frau kommt wieder ganz in Ordnung, sobald sie sich von der Operation erholt hat. Aber sie braucht noch viel Ruhe. Ich würde deshalb vorschlagen, dass Sie Ihren Besuch kurz halten.«
    »Ich bin furchtbar müde, Tennyson«, sagte sie und hasste das Zittern in ihrer Stimme. »Könnten wir uns vielleicht ein andermal unterhalten?«
    »O nein«, sagte er. Und dann wartete er, schweigend, bis Dr. Larch, der nervös an seinem Stethoskop herumnestelte, den Raum verlassen hatte. Wieso war er nervös? Lily konnte sich keinen Reim darauf machen. Tennyson machte die Tür zu, blieb kurz stehen, musterte sie und kam dann schließlich zu ihr ans Bett. Sanft holte er ihre Hand unter der Decke hervor, was ihr gar nicht gefiel. Nachdem er ihre Handfläche ein paar Augenblicke lang gestreichelt hatte, sagte er leise: »Warum, Lily? Warum hast du das getan?«
    Lächerlich. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas getan habe, Tennyson, denn, weißt du, ich erinnere mich überhaupt nicht mehr an den Unfall.«
    Er wischte ihre Worte mit einer Handbewegung beiseite. Er hatte starke Hände, selbstbewusste Hände. »Ich weiß, und das tut mir Leid. Schau, Lily, vielleicht war es ja wirklich ein Unfall, vielleicht bist du ja irgendwie ins Schleudern geraten und mit dem Wagen gegen den Baum gerast. Eine Schwester hat mir erzählt, dass das Forstamt ein paar Leute hingeschickt hat, um festzustellen, wie stark die Schäden an dem Baum sind.«
    »Dr. Rossetti hat es mir schon erzählt. Armer Baum.«
    »Das ist nicht lustig, Lily. Also, du wirst noch zwei, drei Tage hier bleiben müssen, bis die Ärzte sicher sind, dass du wieder in Ordnung kommst. Ich möchte, dass du mit Dr. Rossetti sprichst. Er ist ein neuer Mann mit einer ausgezeichneten Reputation.«
    »Ich hab ihn schon getroffen. Ich will ihn nicht noch mal sehen, Tennyson.«
    Seine Stimme veränderte sich, wurde noch leiser, noch sanfter, und sie wusste, dass sie normalerweise zu weinen angefangen hätte, zusammengebrochen wäre, sich von ihm hätte trösten, beruhigen, versichern lassen, dass der schwarze Mann weg war und nicht wiederkommen würde. Aber nicht diesmal. Nicht jetzt. Vielleicht lag’s ja am Morphium, dass sie sich beinahe euphorisch fühlte, irgendwie leicht und losgelöst. Aber auch stark, auf eine arrogante Weise stark, und das musste ja eine Wahnvorstellung sein.
    »Da du ja selbst sagst, dass du dich an nichts mehr erinnern kannst, Lily, kann es doch bestimmt nicht schaden, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, nicht? Ich möchte wirklich, dass du dir von ihm helfen lässt.«
    »Ich mag ihn nicht, Tennyson. Wie soll ich mir von jemandem helfen lassen, den ich nicht mag?«
    »Du wirst dir von ihm helfen lassen, Lily, oder ich fürchte, wir müssen eine Einweisung in Betracht ziehen.«
    »Ach ja? Wir müssen eine Einweisung in Betracht ziehen? Eine Einweisung wohin? In die Klapsmühle?« Wieso fürchtete sie sich nicht vor diesem Wort, das alle möglichen Konnotationen hervorrief? Aber sie hatte keine Angst. Ihre Augen, mit denen sie ihn anblickte, strahlten geradezu. Dieses Morphiumzeug war schweinegut. Sie merkte, wie ihre Müdigkeit zunahm, der Nebel in ihrem Hirn wieder dicker wurde, sie zu verschlingen drohte, ihre Konzentration zerfaserte, aber noch nicht gleich. Nein, in diesem Augenblick, vielleicht auch noch im nächsten, wurde sie mit allem fertig.
    Er drückte ihre Hand. »Ich bin Psychiater, Lily, ein Doktor wie Russell Rossetti. Du weißt, dass es unethisch wäre, wenn ich dich selbst behandeln würde.«
    »Das Elavil hast du mir aber verschrieben.«
    »Ein weit verbreitetes Antidepressivum, das ist was anderes. Nein, ich könnte dir nicht so helfen, wie Dr. Rossetti es kann. Aber du sollst wissen, dass ich nur das Beste für dich will. Ich liebe dich, und ich habe gebetet, dass es wieder aufwärts geht mit dir. Immer ein Tag nach dem anderen, habe ich mir gesagt. Und es gab Tage, da wusste ich, dass du auf dem Weg der Besserung bist, aber ich habe mich geirrt. Ja, du musst dich mit Dr. Rossetti treffen, oder ich fürchte, ich habe keine Wahl, als dich zu einer Beurteilung einweisen zu lassen.«
    »Entschuldige, dass ich dich darauf hinweise, Tennyson, aber ich glaube nicht, dass das in deiner Macht steht. Ich bin hier – ich kann sehen, ich kann reden, und ich kann denken. Was mit mir geschieht, das
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