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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme
Autoren: Juliet Marillier
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KAPITEL 1
    Sie kamen jeden Sommer. Mit Hilfe von Himmel und Erde, von Sonne und Stein zählte ich die Tage. Ich stieg hinauf zum Kreis heiliger Steine, setzte mich dort vor den Felsen, den ich den Wächter nannte, spürte seine Wärme im Rücken und sah zu, wie die Kaninchen im Zwielicht herauskamen und an den wenigen Gräsern knabberten, die sie auf diesem unfruchtbaren Hügel finden konnten. Im Westen ging die Sonne unter, eine orangefarbene Feuerkugel, die hinter den Hügeln in die unergründlichen Tiefen des Meeres sank. Ihr schwächer werdendes Licht zeichnete die Umrisse der Dolmen nach und warf ihre seltsamen, lang gezogenen Schatten über den steinigen Boden vor mir. Seit ich das fahrende Volk zum ersten Mal gesehen hatte, war ich jeden Sommer hier gewesen, und ich hatte gelernt, die Zeichen zu deuten. Jeden Tag warf die untergehende Sonne die dunklen, spitzen Schatten ein wenig weiter über den Hügel im Norden. Wenn der größte Schatten auf meine Zehen fiel, wenn ich in der Mitte des Kreises saß, war die Zeit gekommen. Am nächsten Tag würde ich zum Weg gehen und dort Wache halten, denn dann würden sie kommen.
    Es lag ein Muster darin. Es gab überall Muster zu erkennen, wenn man wusste, wo man nach ihnen Ausschau halten sollte. Mein Vater hatte mir das beigebacht. Die eigentliche Kunst bestand darin, selbst außerhalb dieser Muster zu bleiben und sich nicht in ihnen zu verfangen. Es war ein Fehler zu glauben, dass man dazugehörte. Die von unserer Art konnten nie dazugehören. Auch das lernte ich von ihm.
    Für gewöhnlich wartete ich dort am Weg hinter einem Wacholderbusch, reglos wie ein Kind aus Stein. Bald schon konnte ich Hufschlag und das Knarren von Wagenrädern hören, und dann sah ich einen oder zwei Jungen auf ihren Ponys, die voranritten und nach möglichen Schwierigkeiten Ausschau hielten. Bis sie den Hügel und die Stelle erreicht hatten, wo ich mich versteckte, hatten sie ihre Wachsamkeit bereits aufgegeben und witzelten und lachten nur noch, denn nun waren sie schon nahe am Lagerplatz und freuten sich auf einen Sommer mit gutem Fischfang und relativer Ruhe, eine Zeit, in der sie ihre Habe reparieren und neue Waren herstellen konnten. Ihr Sommerlager hier an der Bucht war wahrscheinlich alles an Heimat und Sesshaftigkeit, was das fahrende Volk je erlebte.
    Den Jungen auf den Ponys folgten ein oder zwei Wagen, auf denen die älteren Männer und die Frauen saßen, und die Kinder hockten oben auf der Ladung oder rannten neben dem Wagen her. Danny Walker fuhr einen dieser Wagen, seine Frau Peg den anderen. Der Rest folgte zu Fuß, ihre Schals und Halstücher und Schultertücher die einzigen Farbflecken in dem Braun und Grau der Landschaft, denn es war unfruchtbar hier oben, sogar im Frühsommer. Ich beobachtete sie aus meinem Versteck heraus und regte mich nicht. Und schließlich kamen noch mehr Jungen, die auf Ponys saßen oder sie führten. Das war der beste Augenblick des Sommers: Die erste Gelegenheit, Darragh wieder zu sehen, der klein und stolz auf seinem kräftigen Grauen saß. Nach dem Winter oben im Norden war er für gewöhnlich blass, und er beobachtete seine Schutzbefohlenen forschend und stets aufmerksam, falls einer versuchen sollte auszureißen. Sie hatten ihren eigenen Kopf, diese Hügelponys, bis sie richtig eingeritten waren. Diese neue Herde würde im Lauf des Sommers ausgebildet und verkauft werden, wenn das fahrende Volk wieder nach Norden zog.
    Nicht einmal mit einem Blinzeln verriet ich meine Anwesenheit. Aber Darragh wusste trotzdem immer, dass ich dort war. Er schaute zur Seite, zwinkerte mit seinen braunen Augen und grinste kurz, so dass niemand es sehen konnte, nur ich in meinem Versteck am Wegesrand. Dann waren sie auch schon vorbei und zogen weiter zu ihrem Sommerlager, und ich machte mich auf den Heimweg, huschte über den Hügel und die Landenge zur Honigwabe, wo wir wohnten, mein Vater und ich.
    Vater hatte es nicht gern, wenn ich draußen war. Aber er schränkte mich auch nicht ein. Es war wirkungsvoller, sagte er, wenn ich meine eigenen Regeln aufstellte. Und auch unser Handwerk war ein strenger Lehrherr. Ich entdeckte schon bald, dass es keine Zeit für Freunde ließ, keine Zeit zum Spielen, zum Schwimmen oder Fischen oder Von-den-Felsen-Springen, wie es die anderen Kinder taten. Es gab viel zu lernen. Und wenn Vater zu viel zu tun hatte, um mich unterrichten zu können, verbrachte ich meine Zeit damit zu üben. Die einzigen Regeln waren die
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