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Wer nie die Wahrheit sagt

Wer nie die Wahrheit sagt

Titel: Wer nie die Wahrheit sagt
Autoren: Catherine Coulter
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keine Sorgen. Ruhen Sie sich einfach nur aus und kommen Sie wieder zu Kräften. Ich komme dann später noch mal zu Ihnen, Mrs. Frasier. Wenn Sie in den nächsten Stunden Schmerzen bekommen sollten, drücken Sie nur auf diesen Knopf hier, und die Schwester erhöht dann die Morphiumdosis in der Infusion.«
    »Ich dachte, das dürfte der Patient selber machen.«
    Er war einen Moment platt, das sah sie deutlich. Dann sagte er: »Tut mir Leid, aber das dürfen wir Ihnen keinesfalls erlauben«.
    »Wieso nicht?«, fragte sie leise.
    »Weil hier möglicherweise ein Selbstmordversuch vorliegt. Wir können nicht riskieren, dass Sie sich mit einer tödlichen Dosis Morphium voll pumpen und wir Sie nicht wiederbeleben können.«
    Sie wandte den Blick von ihm ab und den Fenstern zu, wo die Sonne so hell hereinschien.
    »Alles, woran ich mich erinnere, ist gestern Abend. Welcher Tag ist heute? Welche Tageszeit?«
    »Es ist Donnerstag, später Vormittag. Sie sind dazwischen immer mal wieder zu Bewusstsein gekommen. Ihr Unfall passierte gestern Abend.«
    »Eine ganz schöne Zeitlücke.«
    »Das wird schon wieder, Mrs. Frasier.«
    »Da bin ich mir keineswegs sicher«, sagte sie langsam und schloss dann die Augen.
     
    Dr. Russell Rossetti blieb einen Moment in der Tür stehen und blickte zu der jungen Frau hinüber, die so still auf dem schmalen Krankenbett lag. Sie sah aus wie eine Prinzessin, die den falschen Frosch geküsst hatte und das nun übel büßen musste. Ihr blondes Haar war blutverklebt und schaute strähnig unter dem Verband hervor. Sie war dünn, zu dünn, und er fragte sich, was sie wohl dachte, jetzt, in diesem Moment.
    Dr. Ted Larch, der Arzt, der ihre Milz entfernt hatte, meinte, sie könne sich an den Unfall nicht mehr erinnern. Er meinte außerdem, er glaube nicht, dass es ein Selbstmordversuch gewesen sei. Dafür sei sie einfach viel zu »präsent«, wie er sich ausdrückte. Der Dummkopf.
    Ted war eine romantische Seele, etwas Seltenes bei einem Chirurgen. Natürlich hatte sie versucht, sich umzubringen. Keine Frage. Ein geradezu klassischer Fall.
    »Mrs. Frasier.«
    Lily wandte den Kopf beim Klang dieser eher hohen Stimme, einer Stimme, die ohne Zweifel weinerlich werden konnte, wenn sie nicht ihren Willen bekam, und die im Moment versuchte, beruhigend und tröstlich zu klingen, einladend, doch ohne Erfolg.
    Sie sagte nichts, blickte nur den übergewichtigen Mann an, der den Raum betrat – groß, gut gekleidet, dunkler grauer Anzug, dicke lockige schwarze Haare, Doppelkinn und dicke weiße Wurstfinger. Er trat zu ihr, stellte sich dicht an ihr Bett. Zu dicht.
    »Wer sind Sie?«
    »Ich bin Dr. Rossetti. Dr. Larch hat Ihnen doch gesagt, dass ich nach Ihnen sehen würde, nicht?«
    »Sie sind der Psychiater?«
    »Ja, der bin ich.«
    »Er hat’s mir gesagt, aber ich will nicht mit Ihnen reden. Es ist unnötig.«
    Negierung, na herrlich, dachte er. Er war sie leid, all die Depressiven, die zu ihm kamen und heulten und jammerten, die sich selbst bemitleideten und um Tabletten bettelten, damit sie sich betäuben konnten. Tennyson hatte ihm zwar gesagt, dass Lily nicht so war, doch er glaubte das nicht.
    Die Ruhe selbst, sagte er: »Offenbar brauchen Sie mich doch. Sie haben Ihren Wagen gegen einen Redwood gefahren.«
    Hatte sie? Nein, das passte irgendwie nicht zu ihr. Sie sagte: »Die Straße nach Ferndale ist sehr gefährlich. Sind Sie die Strecke je gefahren, im Dunkeln, meine ich?«
    »Ja.«
    »Und fanden Sie nicht, dass man sehr vorsichtig sein muss?«
    »Sicher. Aber ich bin nie gegen einen Mammutbaum gefahren. Das Forstamt sieht sich den Baum momentan an, um festzustellen, wie schwer er beschädigt ist.«
    »Nun, wenn mir ein paar Splitter fehlen, dann dem Baum sicherlich auch. Ich möchte, dass Sie jetzt gehen, Dr. Rossetti.«
    Doch anstatt zu gehen, zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr ans Bett. Er schlug die fetten Schenkel übereinander, verschränkte die dicken weißen Finger. Sie konnte seine Hände nicht ausstehen, weiche, schwammige Hände, aber sie konnte auch nicht den Blick davon abwenden.
    »Es dauert nicht lange, Mrs. Frasier. Oder darf ich Sie Lily nennen?«
    »Nein. Ich kenne Sie nicht. Gehen Sie.«
    Er beugte sich vor und versuchte ihre Hand zu ergreifen, doch sie zog sie weg und schob sie unter die Decke.
    »Wir sollten wirklich zusammenarbeiten, Lily …«
    »Mein Name ist Mrs. Frasier.«
    Rossetti runzelte die Stirn. Gewöhnlich mochten es Frauen – alle Frauen –,
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