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Wer nie die Wahrheit sagt

Wer nie die Wahrheit sagt

Titel: Wer nie die Wahrheit sagt
Autoren: Catherine Coulter
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entscheide ich.«
    »Das wird sich zeigen. Lily, bitte sprich mit Dr. Rossetti. Sprich mit ihm über deinen Kummer, deine Schuldgefühle, die Tatsache, dass du zu akzeptieren beginnst, was dein Ehrgeiz angerichtet hat.«
    Ihr Ehrgeiz? Sie war so ehrgeizig, dass es ihre Tochter das Leben gekostet hatte?
    Auf einmal wollte sie es ganz genau wissen. »Was bitte meinst du damit, Tennyson?«
    »Du weißt schon – Beths Tod.«
    Das war wie ein Faustschlag ins Gesicht. Schuldgefühle überrollten sie wie eine Flutwelle. Nein, Moment mal, das wollte sie nicht zulassen. Nicht jetzt. Nicht schon wieder. Unter dem Morphium und allem anderen war sie immer noch da, war immer noch sie selbst, wollte gesund werden, wieder ganz werden, wollte wieder Cartoons über den Aalglatten Remus zeichnen, wie er mal wieder einen Politikerkollegen aufs Kreuz legte, wollte … War das der übergroße Ehrgeiz, der ihre Tochter umgebracht hatte? »Ich kann mich jetzt nicht damit befassen, Tennyson. Bitte geh. Morgen geht’s mir bestimmt besser.«
    Oder eher nicht; nein, morgen würde es ihr miserabel gehen, denn morgen wollte man die Schmerzmittel herabsetzen, aber darüber wollte sie sich jetzt keine Gedanken machen. Jetzt wollte sie nur schlafen, sich regenerieren, Körper und Seele wieder zu Kräften kommen lassen. Sie wandte sich von ihm ab, hatte keine Worte mehr, konnten nicht mehr reden, nicht mehr klar denken. Sie fiel, fiel ganz sanft, so sanft, in den Bauch des Wals, den weichen, warmen, tröstlichen Bauch. Rück ein Stück, Jonas. Sie würde keine Alpträume haben, das Morphium würde sie davor bewahren.
    Sie starrte die Infusionsnadel in ihrem Arm an, ließ den Blick am Schlauch entlang nach oben wandern bis zu dem Beutel mit der Flüssigkeit. Er verschwamm vor ihren Augen, langsam fielen ihr die Lider zu, und sie hörte noch, wie Tennyson sagte: »Ich komme heute Abend noch mal, Lily. Schlaf gut.« Er beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange. Wie sehr hatte sie doch seine Hände geliebt, seine Berührungen, seine Küsse, aber jetzt nicht mehr. Ihre Gefühle waren tot, abgestorben, schon seit so schrecklich langer Zeit.
    Als sie wieder allein war, dachte sie: Was soll ich bloß tun? Aber das wusste sie doch, ja, sie wusste es. Sie versuchte die Lähmung, den Nebel abzuschütteln, kämpfte gegen die betäubende Wirkung des Morphiums an. Sie nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer ihres Bruders in Washington D.C. Es klickte mehrmals, dann hörte sie Atemgeräusche, aber nichts geschah. Deshalb wählte sie die Neun, dann noch mal dieselbe Nummer. Sie versuchte es abermals, kam aber nicht durch. Und auf einmal war die Leitung tot.
    Eine vage Furcht keimte in ihr auf, während sie sich langsam ins Vergessen sinken ließ, eine tief in ihrem Inneren verwurzelte Furcht, die sich nicht recht greifen ließ, und es war keineswegs die Furcht davor, gegen ihren Willen in eine Anstalt eingewiesen zu werden.

3
    Lily spürte, wie jemand zart wie ein Schmetterling über ihre Augenbrauen strich. Sie hörte eine Männerstimme, eine Stimme, die sie ihr Leben lang geliebt hatte, tief und leise und herrlich süß, und sie freute sich riesig darüber.
    »Lily, ich will, dass du die Augen aufmachst, mich anschaust und mir ein Lächeln schenkst. Geht das, Schätzchen? Komm, mach die Augen auf.«
    Sie machte die Augen auf und blickte zu ihrem großen Bruder auf. Und schenkte ihm ein Lächeln. »Mein großer Bruder, der FBI-Cop. Ich bewundere dich, seit du mir beigebracht hast, was ich mit Billy Clapper anstellen soll, wenn er wieder versucht, mir unter den Rock zu greifen. Weißt du noch?«
    »O ja, sehr gut sogar. Du warst zwölf, und der kleine Scheißer mal gerade vierzehn, als er dir zwischen die Beine gefasst hat.«
    »Na ja, Dillon, er konnte nach dem zweiten Versuch ’ne ganze Zeit lang nicht mehr aufrecht gehen. Hat’s nie wieder versucht.«
    Er lächelte, ein wunderschönes Lächeln, strahlend weiße Zähne. »Ich erinnere mich.«
    »Ich hätte den Kerlen auch weiterhin in die Eier treten sollen. Dann wäre nichts von alledem hier passiert. Bin ich froh, dass du da bist.«
    »Ich bin da, und Sherlock ebenso. Wir haben Sean bei Mutter gelassen. Mann, die hat bis über beide Ohren gegrinst und ein Halleluja gesungen, als wir davonfuhren. Wir haben ihr gesagt, du hättest einen Unfall gehabt, dass es dir aber den Umständen entsprechend gut geht und wir dich einfach nur besuchen wollen. Du kannst sie ja
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