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Wer nie die Wahrheit sagt

Wer nie die Wahrheit sagt

Titel: Wer nie die Wahrheit sagt
Autoren: Catherine Coulter
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dir die Füße losbinden, damit du gehen kannst. Du kannst raus in die Scheune und dir ’ne Ecke suchen. Hier, ich mache dir die Hände nach vorn. Sollst dich ja nicht anpinkeln.« Lily hatte nicht die geringste Chance zur Gegenwehr. Ihre Füße waren zusammengebunden. Sie konnte nichts tun als warten, bis das Klebeband wieder um ihre Handgelenke gewickelt war. Wenigstens hatte sie die Hände nun vor dem Körper, wenn auch nur für kurze Zeit.
    »Hier, ’n Taschentuch.«
    Lily ging Tammy voraus in die große Scheune. Dort war es schrecklich unordentlich und dreckig – überquellende Ballen verrottenden Heus, vereinzelte rostige Erntegeräte, lose Bretter, so dass Schnee und eisige Luft ungehindert hereinwehten. Sofort sah sie den großen schwarzen Kreis, der auf dem an dieser Stelle tadellos sauber gefegten Boden aufgemalt war. Dort also hatten Tammy und ihr Bruder die beiden Jungen gezwungen, sich hinzustellen, während Tammy die Ghule rief.
    »Wie wär’s da hinten? Komm schon, ab die Post, wir haben viel zu tun. Ich trau dir zwar nicht, dass du keine Dummheiten machst, aber das ist sowieso egal. Beweg deinen Arsch, Schwester.«
    Lily erleichterte sich und wandte sich dann zu Tammy um, die sie beobachtet hatte.
    »Wie sind Sie ins Haus reingekommen? Die Alarmanlage ist eine der besten auf dem Markt.«
    Tammy grinste bloß. Lily konnte sie jetzt ganz deutlich erkennen, in dem dicken Strahl Morgenlicht, der durch einen weiten Spalt in der Scheunenwand hereinfiel. Sie trug schwarze Jeans über den schwarzen Schnürstiefeln und einen langärmeligen schwarzen Rolli. Ein Ärmel hing leer herab. Sie war weder hässlich noch besonders attraktiv, sah ganz normal aus, durchschnittlich sogar. Sie sah auch nicht besonders furchteinflößend aus, auch wenn sie ihre dunklen Haare mit Gel eingerieben und wie Igelstacheln aufgestellt hatte. Sie hatte dunkle Augen, noch dunkler als ihre Haare, die in scharfem Kontrast zu ihrem Gesicht standen, das sehr blass war, wahrscheinlich noch blasser als normalerweise, da sie weißen Puder verwendet zu haben schien. Ihre Lippen waren in einem dunklen Pflaumenblau angemalt. Sie war dünn, und ihre einzige Hand war lang und schmal, die Fingernägel in demselben Pflaumenblau lackiert wie der Mund. Doch obwohl sie so dünn war, wirkte sie stark wie ein Ochse.
    »Ich wette, dein Bruder und seine kleine rothaarige Schlampe haben sich beim Warten auf mich schon die Finger wundgekaut. Aber den Gefallen hab ich denen nicht getan, dann zu kommen, wenn die wollten. Diesen Mist, den dieser FBI-Heini im Fernsehen von sich gegeben hat, hab ich keine Sekunde geglaubt. Ich wusste, dass es ’ne Falle war, aber das war schon in Ordnung. Hab mir Zeit gelassen, hab alles über diese Alarmanlage rausgekriegt und wie man sie ausschaltet. War nicht schwer. Setz dich, Schwesterchen.«
    Lily setzte sich auf einen Heuballen, der so alt und trocken war, dass er unter ihr knarrte. »Ich glaube nicht, dass Sie diese Alarmanlage allein ausschalten konnten. Dazu braucht es schon jede Menge Erfahrung.«
    »Da hast du Recht. Die Leute unterschätzen mich immer, weil sie mich für eine blöde Landpomeranze halten.« Tammy grinste sie an und begann dann vor ihr auf und ab zu gehen, wobei sie gelegentlich einen Blick auf ihren leeren Ärmel warf, wo ihr Arm gewesen war. Lily beobachtete sie und sah, wie dabei ein Ausdruck von Panik über ihre Züge huschte, gefolgt von abgrundtiefem Hass.
    »Was haben Sie mit mir vor?«
    Tammy lachte. »Na, ich werde dich in den Kreis stellen, und dann werde ich die Ghule rufen. Die werden kommen und dich in Stücke reißen, und dieses Paket werde ich dann an deinen Bruder schicken – so wird er dich bestimmt nicht gern sehen wollen.« Tammy hielt kurz inne und neigte den Kopf ein wenig schief. »Sie sind schon ganz nahe. Ich kann sie hören.«
    Lily lauschte. Sie hörte das leise Rascheln von Zweigen, wahrscheinlich von dem stetigen leisen Schneefall draußen und dem Wind. Aber sonst hörte sie nichts, nicht mal das morgendliche Zwitschern von Vögeln, überhaupt keine Tiergeräusche. »Ich höre gar nichts.«
    »Das wirst du schon noch«, beruhigte Tammy sie höhnisch. »Das wirst du schon noch. Wir gehen jetzt rüber zu dem schwarzen Kreis. Du wirst dich in die Mitte setzen. Ich werde dir nicht mal die Hände hinter den Rücken binden. Und jetzt beweg dich, Schwesterchen.« Tammy zog eine Pistole und richtete sie auf Lily.
    »Nein, ich rühre mich nicht vom Fleck«, sagte Lily
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